Warum der Geist vor dem Gehirn da war und nicht umgekehrt

Was Marcel Reich-Ranicki für die Literatur war, das war Hoimar von Ditfurth bis in die 1980er Jahre für die Naturwissenschaften. Wenn es darum ging, anspruchsvolle wissenschaftliche Themen einem breiteren Publikum zu vermitteln, fiel früher oder später sein Name.
Das Zitat bedarf jedoch der Einordnung. Wer nichts über von Ditfurth weiß und dann noch sein Foto mit der schneeweißen Schifferkrause sieht, könnte gar auf die Idee kommen, es handle sich um einen esoterischen Guru. Nichts läge der Wahrheit indes ferner.
Hoimar von Ditfurth studierte in Berlin Medizin, Psychologie und Philosophie, bis er 1941 mit zwanzig Jahren als Sanitätssoldat zur Wehrmacht eingezogen wurde. Später schloss er sein Studium ab, spezialisierte sich auf Neurologie und Psychiatrie und wurde an der Uni Würzburg habilitiert. Er war auch bis zu seinem Tod Herausgeber einer medizinischen Fachzeitschrift. Deren Geschäftsführung gab er allerdings bald ab, um sich seiner eigentlichen Leidenschaft – der Publizistik und dem Wissenschaftsjournalismus – zuwenden zu können.
Lange vor Stephen Hawkings Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Zeit (1988) setze von Ditfurth bereits Maßstäbe für das Genre populärwissenschaftliches Sachbuch – jedenfalls für den deutschsprachigen Raum. Kinder des Weltalls, Im Anfang war der Wasserstoff, Der Geist fiel nicht vom Himmel und andere sind Klassiker aus den 1970ern, die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann. Aus letzterem stammt obiges Zitat.
Einem noch breiteren Publikum wurde von Ditfurth durch seine inzwischen legendäre Sendereihe Querschnitte bekannt, in der er im ZDF bis 1983 Wissenschaft allgemeinverständlich aber auf beachtlichem Niveau präsentierte. Die erfolgreichsten Sendungen sahen bis zu 10 Millionen Zuschauer und erreichten damit annähernd die Einschaltquoten eines DFB-Pokalfinales. Behandelt wurden so unterschiedliche Themen wie die Entstehung von Sternen, das Geheimnis der Pyramiden oder das SETI-Projekt. Einen Schwerpunkt bildete aber die Evolution, was sicher auch daran lag, dass von Ditfurth Konrad Lorenz noch persönlich kannte. Unvergessen ist auch die Folge, in der er die Funktionsweise eines Massenspektrometers mit Hilfe eines umgepolten Staubsaugers und unterschiedlich schweren Billardkugeln veranschaulichte. Querschnitte steht bis heute Pate für Produktionen wie Abenteuer Forschung.
Ein erklärtes Ziel von Ditfurths war auch das Ankämpfen gegen Pseudowissenschaft. Sowohl in Querschnitte als auch in seinen Büchern positionierte er sich immer wieder klar gegen Astrologie, Aberglaube oder Kreationismus.
Wie passt nun all dies zu obigem Zitat?
„Geist“ ist für von Ditfurth zunächst kein metaphysischer Begriff, sondern etwas konkret Beobachtbares. In Im Anfang war der Wasserstoff schreibt er gleich in der Einleitung über diese „neue Perspektive“ auf die Evolution und verdeutlicht sie am Beispiel der „Raupe des Kaiseratlas“. Diese spinnt sich – wie alle Schmetterlingsraupen – ein, wenn die Zeit für die Verpuppung gekommen ist und hüllt sich zusätzlich noch in ein vertrocknetes, eingerolltes Blatt, das sie selbst herstellt, indem sie dessen Stil rechtzeitig vorher durchbeißt. Allein das ist schon recht beeindruckend für eine hirnlose Raupe, aber der Clou kommt erst: Die Raupe beißt nicht nur ein Blatt ab, sondern fünf bis sechs, die sie alle nebeneinander platziert, wobei nur in eines davon die Puppe gelegt wird. Nun ist klar, was dieses listige Verhalten bewirkt: Vögel, die auf Futtersuche sind, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine der leeren Attrappen hineinpicken und lernen, dass es sich nicht lohnt, in vertrockneten Blättern nach Futter zu suchen. Die Raupe hat dadurch ihre Überlebenswahrscheinlichkeit deutlich erhöht.
Die Natur ist voll von solchem „intelligenz-analogem“ Verhalten. Hätte es sich jemand ausgedacht, würde man ihm Kreativität und die Fähigkeit zur geistigen Vorwegnahme fremden Verhaltens attestieren. Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass „derartige Leistungen in dieser Welt sehr viel älter sind, als die ältesten Gehirne“, wie von Ditfurth schrieb. Oder, wie er an anderer Stelle formulierte:
„Es ist nicht überflüssig, sich einmal klarzumachen, daß die Intelligenz, über die ein Organismus verfügt, weit übertroffen wird von der Intelligenz, die er – in seinem Bauplan und seinen physiologischen Funktionen – verkörpert. Das gilt grundsätzlich und also auch für uns selbst.“
Diametral entgegen steht dem die heute gängige, wissenschaftliche Sichtweise, die da lautet: Gedanken und Intelligenz werden von neurophysiologischen Prozessen in Gehirnen hervorgebracht (oder sind gar mit diesen identisch). Für von Ditfurth wäre dieser Standpunkt mitnichten die höchste Form der Wissenschaftlichkeit, sondern eher eine Form des Anthropozentrismus, ein letzter Reflex der menschlichen Mittelpunktswahns, der sich an die hybride Illusion klammert, der Geist sei erst mit uns im Universum erschienen. Vielleicht wäre die Zeitschrift Gehirn&Geist von Spektrum der Wissenschaft also gut beraten, sich in Geist&Gehirn umzubenennen?
Nun wird oft eingewendet, dass es doch Erklärungen gebe, wie intelligenz-analoges Verhalten in der Evolution entstanden ist. Natürlich gibt es die und genau dazu kann man in von Ditfurths Büchern sehr viel lernen. Gehört er doch zu den Autoren, die soche Zusammenhänge brillant erklären können, zum Beispiel in Der Geist fiel nicht vom Himmel. Nur ändert das rein gar nichts an obigem Argument, dass Materie an sich zwar „dumm“ ist, sich aber trotzdem intelligent verhalten kann.
Für von Ditfurth war Evolution deshalb auch ein Prozess, in dem die Materie das „geistige Prinzip“ in sich aufnimmt. Damit überschritt er natürlich die Grenze zur Metaphysik, was ihm aber, im Gegensatz zu manchen zeitgenössischen Wissenschaftlern, bewusst war. Wunderschön beschreibt er diesen Gedanken am Ende von Der Geist fiel nicht vom Himmel:
„Das Gehirn hat das Denken nicht erfunden (…) So wenig, wie die Beine das Gehen erfunden haben oder die Augen das Sehen. Beine sind die Antwort der Evolution auf das Bedürfnis nach Fortbewegung auf festem Boden gewesen. Und Augen waren eine Reaktion der Entwicklung auf die Tatsache, dass die Oberfläche der Erde von einer Strahlung erfüllt ist, die von festen Gegenständen reflektiert wird. (…) So gesehen sind Augen also ein Beweis für die Existenz der Sonne. So, wie Beine ein Beweis sind für das Vorhandensein festen Bodens und ein Flügel ein Beweis für die Existenz von Luft. Deshalb dürfen wir auch vermuten, dass unser Gehirn ein Beweis ist für die reale Existenz einer von der materiellen Ebene unabhängigen Dimension des Geistes.“
Foto: Screenshot youtube
Hoimar von Ditfurth über Naturwissenschaft und Religion
(im Zusammenhang mit dem Artikel insbesondere 26:05 bis 28:36)
Weitere Links:
Ich habe alle seine Bücher gelesen, er hat mich als junger Kerl geprägt.
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Du hast gerade den 100. Like auf dem Blog gegeben. Vielen Dank! 🙂
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Oh, cool!
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Wenn’s es gut läuft, gibt es bei 200 einen Mercedes. :-)) Im Moment ist das Budget leider schmal. 😉
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Leben ist erkenntnisstandgerechte Natur-Anpassung, denn die Logik der Naturgetze bestimmt alles was ist.
Philosophisch heißt das lebenspraktisch,für alle Lebewesen, unbewusst und /oder für Menschen, bewusst – erkenne die Sruktur und deren Ordnung naturwissenschaftlich/pantheistisch erkenntnisstandgerecht und passe Dich diesen Verhältnissen so gut/nachhaltig wie möglich – die heutigen Lebensbedingungen erhaltend – an. Dann lebst Du -`als Teil des Ganzen`- richtig und das Leben gelingt!
Kurz: Der Kapitalismus ist natürlich unbewusst dominant antriebsdynamisch bedingt. Auflehnung und Meckerei reicht nicht.
Es gibt keine Heilung ohne eine kausale (ursächliche) philosophisch-erkenntnisstandgerechte Diagnostik und ebensolche Therapie. Ein philosophische Therapie der Einsicht in die natürlichen Notwendigkeiten, um die natürlich bedingten lebensschädlichen zwanghaften und maßlos ausgelebten Antriebsneigungen öku-,ökosozial zu entschärfen zu können. Diese Zusammenhänge sind – natürlich unbewusst* dominant wirksam antriebsdynamisch* erklärbar und bewusst erkenntnisstandgerecht*, ethisch-moralisch reflektiert*und lebenspraktisch* – durch eine ethisch erkenntnissgemäße, demokratisch-transparente „Rückabwicklung der kapitalen Ungleicheit“ – entschärfbar*.. Auf geht`s!. Mehr dazu im Internet unter: > klaus roggendorf + * <
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Mit dem Lesen der Bücher von HvD Mitte der 80-iger Jahre habe ich mein Weltbild entscheidend erweitern und mit Hilfe weiterer populärwissenschaftlicher Publikationen ein diesbezügliches Wissen verbreitern können. Heute weiß ich, wie in etwa die Natur „funktioniert“, der wir es zu verdanken haben, dass es uns gibt. Es ist mir aber auch bewusst geworden, dass es, über alles stehend, eine überragende geistige Instanz vorhanden zu sein scheint, welche alles in unserer Welt, ja im gesamten Universum, festsetzt und regelt. Diese Instanz könnte man auch als Gott bezeichnen und sich damit überhaupt die Frage nach dessen Vorhandensein ersparen.
Helmut Pfeifer
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P.S.: Ich mochte auch seine Sendung „Querschnitte“. Eine großartige Folge war zum Beispiel, wie er den Unsinn der Astrologie ad absurdum führte.
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Axel, sagt Dir der Name „Bernardo Kastrup“ was? Könnte Dich interessieren: er hat einige Bücher zum Idealismus (im Sinne von: „Alles was ist, ist in einem Bewusstsein“) geschrieben.
Ich habe ihn am 20. Januar in Luzern an der Biennale „Das Rätsel des menschlichen Bewusstseins“ gehört. Habe mir drei, vier Bücher von ihm besorgt und schon ein wenig reingeschmökert.
Seine Ansichten sind auf jeden Fall bedenkenswert—interessant zur Einführung auch das Intro-Video auf seinem Youtube-Channel.
Viele Grüße, Daniel
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Es hilft keineswegs, wenn der Geist sich und das Gehirn umbenennt. Was wirklich hilft, ist nur die geistige Umstellung: die Selbstentdeckung. Alles andere ist nur Neutapete auf Altmauer.
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Zensur ist der Beweis geistiger Messerrasur.
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