Ein Neurowissenschaftler verliebt sich – Inspiration für die Forschung?

Was ist Bewusstsein? das fragt sich nicht nur der Neurowissenschaftler Balduin Schönwald. Die gängige Antwort – Bewusstsein ist das Produkt komplexer Hirnvorgänge – hat er bisher wie selbstverständlich hingenommen. Als seine Arbeitsgruppe jedoch während eines Experiments eine rätselhafte Entdeckung am Gehirn macht, gerät diese Überzeugung mehr und mehr ins Wanken und die alten, ungelösten Fragen melden sich zurück wie ein unverarbeiteter Alptraum: Wie entsteht unser inneres Erleben, unsere Qualia? Und: Wenn unser Denken und Handeln tatsächlich das Ergebnis von Hirnvorgängen sind, was ist dann mit unserem freien Willen?

Schnell schlägt das Experiment Wellen. Ein argusäugiger Ministerialreferent aus dem Forschungsministerium taucht an Balduins Institut auf und auch die Presse riecht den Braten und erscheint in Gestalt einer Wissenschaftsjournalistin. Beim Institutsball kommt es dann, wie es kommen muss: Balduin entdeckt, dass es noch andere offene Fragen gibt, denn die Journalistin erweist sich als so unergründlich wie das Bewusstsein selbst. Nun muss er nicht nur den schwelenden Konflikt mit dem Referenten austragen, sondern gerät auch in einen Strudel aus emotionalen, philosophischen und wissenschaftlichen Rätseln.

So weit mein Roman „Die Hirnkurve der Liebe“. Ja, es gibt nun neben dem „Wissenschaftsthriller“ auch die „Wissenschaftsromanze“. Bringt das das Thema irgendwie voran, oder ist es nur die Verkitschung desselben? Vielleicht beides. Wann die Grenze zum Kitsch überschritten ist, das hängt bekanntlich von Geschmack und Gefühlszustand jedes Einzelnen ab – da möge jeder sein Urteil bilden. Und das Thema? Verdrängte oder übersehene Fragen (wieder) sichtbar zu machen, ist oft erhellender, als auf die Schnelle vermeintliche Antworten zu finden (wie ich schon an anderer Stelle schrieb). Klingt im Zeitalter von Google & Co. vielleicht komisch, ist aber so. Und – so weit lehne ich mich mal aus dem Fenster – in genau diesem Punkt kann mein Roman mit den Titeln des „Konkurrenz-Genres“ Wissenschaftsthriller locker mithalten.

Gefühl versus Vernunft?

Aber der Reihe nach. Die Geistesgeschichte des Menschen ist bekanntlich von einem ständigen Wettstreit durchzogen, nämlich dem zwischen Romantik und Aufklärung, Gefühl und Vernunft, Mythos und Logos oder auch zwischen den dionysischen und den apollonischen Kräften. Manche meinen auch, es handle sich dabei lediglich um die Auseinandersetzung zwischen Verwirrung und Erkenntnis. Wie dem auch sei: Wann immer einer der beiden Pole überbetont war, schlug das Pendel auf die andere Seite. Ein Beispiel von vielen wäre das Aufblühen des Spiritismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgerechnet in England (Stichwort: Golden Dawn), dem Stammland des Empirismus, inmitten eines Booms der Naturwissenschaften (man denke an: Darwin, Genetik, Radioaktivität, Relativitätstheorie und Quantenmechanik).

Dass es diese Pendelbewegung gibt, ist eigentlich unumstritten. Mein Bloggerkollege Dirk Boucsein hat gerade einen lesenswerten Artikel dazu geschrieben. Eine ganz andere Frage ist indes, wie man sie bewertet. Handelt es sich um ein fruchtbares Schwingen zwischen zwei notwendigen Polen? Oder gleicht die Aufklärung dem Sisyphos, und scheitert wie dieser immer und immer wieder an der menschlichen Unvernunft? Bringt uns dieses Hin und Her voran? Oder wäre es nicht viel besser, wenn der Logos endlich den finalen Sieg einführe? Ist die Menschheit en gros einfach zu dämlich für die Antworten der Naturwissenschaft und tanzt deshalb immer wieder um das goldene Kalb des Mythos? Oder liegt es (auch) an der Wissenschaft selbst, die die entscheidenden Antworten schuldig bleibt? Dirk Boucseins schreibt:

Kants Versuch der Aufklärung scheitert in Teilen der Kulturhistorie, da er hierbei leider vergessen hat die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Und jetzt ist der „Bus mit der Aufschrift“ „Vernunft“ leider an den meisten Menschen vorbei gefahren und steht an der Endhaltestelle „Wissenschaft“. Die Wissenschaft und insbesondere die moderne Naturwissenschaft hat diese „dionysische Lücke“, die der „gefallene Mythos“ hinterlassen hat, genial mit dem Logos geschlossen.“

Endstation Wissenschaft? Ist das das Pendant zum „Ende der Geschichte“ das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 ausrief und auf das wir – Fingerzeig? – bisher vergeblich warten? Dort das Ende weltpolitischer Widersprüche, hier die finale Erkenntnis, jeweils die letzte Hegelsche Synthese, sofern der Mensch nur mitmacht? Oder ist die Botschaft von der genial geschlossenen dionysischen Lücke eben doch wieder selbst nur ein Mythos, dessen Anhänger der sinnstiftenden Erzählung von der rationalen Welterklärung anhängen und die Häretiker mit Ausgrenzung aus dem Diskurs strafen, so wie Eiferer jeglicher Couleur dies eben tun? Liegt es nur an der Verstocktheit der allzu zahlreichen Verblendeten, die die offensichtlichen Stärken der „Vernunft“ nicht erkennen (wollen)? Hätte man die Menschen alle abholen können „wo sie stehen“, wenn man nur geduldig genug erklärt hätte? Hat man die finalen Argumente gegen Mythos und Romantik und müsste sie nur perfekt kommunizieren? Scheitert man nur an der Beschränktheit des „Pöbels“, der „erkenntnisphilosophischen Trump-Wähler“? Oder gibt es doch noch andere Faktoren, die dem Endsieg der Vernunft entgegenstehen? Sind es vielleicht Lücken oder blinde Flecken der Naturwissenschaft, die die letzte Erkenntnis vereiteln? Ist das Fremdeln des „Pöbels“ mit den Naturwissenschaften am Ende gar berechtigt und enthält einen wahren Kern, weil er spürt, dass die Wissenschaft nur die Fragen beantwortet, die sie selbst stellt, aber nicht die seinen? Ahnt der „Pöbel“ den bewussten oder unbewussten Betrug der Wissenschaftler, die er selbst zu Wahrheitsverkündern verklärt hat? Und könnte die Wissenschaft mit rationalen Mitteln die eigenen blinden Flecken entdecken, wenn sie nur wollte und die eigene Hybris überwände?

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Bevor ich nun aber zwei Euro ins Phrasenschwein bezahle, will ich mich für diesen Artikel einmal klar auf die Seite des „Pöbels“ schlagen und sagen: Ja, die Wissenschaft hat mindestens einen blinden Fleck und den sollte sie sich eingestehen. Aber warum hat sie ihn? Es sind drei Gründe, die zusammenwirken: Statistik, Perspektive und Bewusstsein.

Statistik

Wenn es stimmt, dass man keiner Statistik trauen soll, die man nicht selbst gefälscht hat, dann hat Statistik in der Naturwissenschaft eigentlich nichts verloren. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Das hat vor gut einhundert Jahren angefangen. Davor hatte man ein mechanistisches Weltbild, in dem die Dinge kausal miteinander verknüpft waren. Wenn zwei Billardkugeln aufeinanderprallen, ist klar in welche Richtung die beiden danach weiterrollen, da gibt es keinen Verhandlungsspielraum. So stellte man sich das gesamte Universum vor.

Diese Vorstellung änderte sich spätestens, als man die Radioaktivität entdeckte. Sie warf viele Fragen auf. Eine davon lautete: Wie lange dauert es, bis ein radioaktives Atom zerfällt? Und die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Es kann nämlich in der nächsten Sekunde zerfallen oder erst in einer Milliarde Jahre. Und zu allem Überfluss lässt sich dieser Vorgang auch noch durch nichts beeinflussen.

Man weiß, wie viele Atome in einer bestimmten Zeit zerfallen, aber nicht, welche!

Glücklicherweise stellte sich heraus, dass man eine andere Frage, die ganz ähnlich klingt, sehr wohl beantworten kann: Wie lange dauert es, bis ein Viertel aller Atome einer Probe zerfallen sind? Diese Dauer hängt vom betreffenden Element ab und kann experimentell bestimmt werden. Man kann das Verhalten eines einzelnen Atoms also nicht voraussagen, das Verhalten von sehr vielen Atomen aber schon. Das ist ein Phänomen, das man aus der Statistik kennt. Wählt man zum Beispiel aus einem Telefonverzeichnis eine einzelne Person zufällig aus, so hat man keine Möglichkeit vorherzusagen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handeln wird. Wählt man dagegen eine Million Personen zufällig aus, kann man sicher sein, dass etwa die Hälfte davon Frauen sein werden.

Der Zerfall radioaktiver Atome ist also nicht kausal determiniert, wohl aber statistisch. Und so hat die Statistik auch in die harten Naturwissenschaften Einzug gehalten. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, denn die Vorhersagen habe sich zigtausendfach im Experiment bewährt. Nur: Dass damit alles geklärt sei, das kann man nun nicht behaupten. Die Frage, welches Viertel der Atome zerfallen wird, ist nach wie vor ungeklärt, wie die Abbildung zeigt.

Perspektive

Was bei Atomen vielleicht noch nach einem akademischen Problem klingt, wird schnell brisant, wenn wir es auf andere Situationen übertragen. Wenn ein Medikament ein Viertel aller Patienten heilt, haben wir eine analoge Situation. Aus der Perspektive des Wissenschaftlers oder des Arztes ist alles klar. Wir haben es mit einem statistischen Determinismus zu tun, wie beim Zerfall der Atome. Schließlich sagen die Studien das so voraus. Aus der Perspektive des Patienten ist diese Antwort aber unbefriedigend. Ihm wird die Information, dass ein Viertel geheilt wird, wenig nützen. Vielmehr wird er wissen wollen, warum gerade er zum geheilten Viertel gehört oder eben nicht. Der Arzt wird ihm dies in der Regel nicht beantworten können, aber ist die Frage deshalb unwissenschaftlich oder gar unberechtigt?

Statistische Antworten sind notwendig die Antworten eines äußeren Beobachters. Aus dieser Perspektive der dritten Person werden Fragen, die sich aus der Perspektive der ersten Person stellen, leicht übersehen. Doch Fragen der ersten Person sind die, die Menschen bewegen.

Bewusstsein

Mit der Frage nach der Perspektive sind wir automatisch beim Bewusstsein gelandet. Denn, was immer Bewusstsein genau sein soll (bekanntlich konnte man sich bisher auf keine Definition einigen), es ist notwendig, um eine Perspektive einzunehmen. Am naheliegendsten ist für uns natürlich die Perspektive der ersten Person, also genau jene, mit der die Naturwissenschaft die größten Probleme hat. Denn, wie sie entsteht, das ist die Kernfrage des ungelösten Qualiaproblems, über das auf diesem Blog schon viel geschrieben wurde.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Naturwissenschaft betrachtet die Dinge aus der Perspektive der dritten Person und neigt dazu, Probleme statistisch zu behandeln. Außerdem kann sie das Entstehen einer Perspektive der ersten Person nicht hinreichend erklären. Der Mensch dagegen betrachte die Welt aus eben dieser Perspektive der ersten Person und das nicht statistisch, sondern individuell. Irgendwo hier ist das Problem. Irgendwo hier ist der Grund dafür verborgen, dass die Menschen mit der Naturwissenschaft fremdeln und sich immer wieder dem Gefühl, der Romantik und dem Mythos hingeben. Es mag sein, dass viele die Naturwissenschaften auch gar nicht verstehen, aber das ist offenbar nicht der alleinige für dieses Phänomen.

So schreibt auch der britische Physiker und bekannte Buchautor Paul Davies:

„(…) man kann sicher fragen, ob die Wissenschaft die ganze Wahrheit liefern kann. Viele Wissenschaftler bestreiten im Übrigen, dass die Wissenschaft jemals eine so verstiegene Behauptung aufgestellt hat [aber eben nicht alle – A. S.]. Die Wissenschaft mag hilfreich sein bei der Erklärung von Elektronen beispielsweise, aber ihr Nutzen ist begrenzt, wenn es um Dinge wie Liebe, Moral oder den Sinn des Lebens geht. Diese Erfahrungen sind Teil unserer Wirklichkeit, aber sie entziehen sich dem Zugriff der Wissenschaft (…) Vielleicht hat das Unvermögen der Wissenschaft, sich zu diesen grundlegenden Existenzfragen zu äußern, zu der verbreiteten Ernüchterung über die wissenschaftliche Weltsicht geführt (…)“[1]

Davies hat das Stichwort gegeben: Liebe. Wenn Balduin Schönwald, der Protagonist meines Romans, sich verlieben muss, dann ist das einer der vielen Gründe dafür: Verliebt ist er ganz auf seine Gefühle und die Perspektive der ersten Person zurückgeworfen. In diesem Zustand gehen ihm die Fragen auf, die er vorher gar nicht wahrgenommen hat. Sein bester Freund Waldemar, ein Experimentalphysiker, erklärt ihm einmal, dass es nun mal eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Verlieben gebe. Darauf fragt ihn Balduin: „Mag sein. Aber warum habe ich mich ausgerechnet in sie verliebt?“

Was wird Waldemar wohl antworten?


[1] Paul Davies, John Gribbin; Auf dem Weg zur Weltenformel, S. 25.

Posted by:Axel Stöcker

Axel Stöcker studierte Mathematik und Chemie. Seit 2016 bloggt er zu den „großen Fragen“ der Wissenschaft und des Lebens im Allgemeinen und war damit schon mehrfach für den Wissen-schaftsblog des Jahres nominiert (https://die-grossen-fragen.com/). Einen Schwerpunkt bilden dabei die Themen Bewusstsein und freier Wille. Dazu interviewt er auf dem YouTube-Kanal „Zoomposium“ zusammen mit Dirk Boucsein bekannte Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth. Seine Gedanken zu diesem Thema hat der „Skeptiker mit Hang zur Romantik“ nun in dem Roman „Balduins Welträtsel“ verarbeitet.

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