Zwei Boomer philosophieren – Teil2: Ist das Leben der bessere Philosoph?

Im 1. Teil haben der Schwarze Peter vom Blog müller-denkt und ich uns über das Thema Verlust ausgetauscht, was uns dann ziemlich schnell zur Sinnfrage geführt hat. Nein, das Thema ist keineswegs ausgelutscht, sondern aktueller den je, wie eine zweiminütige Recherche auf TikTok eindrücklich vor Augen führt. Ein bisschen haben wir uns gegenseitig hochgeschaukelt, denke ich und als wir das Resultat lasen … was soll ich sagen? Wir waren uns einig, dass wir es unseren Lesern keinesfalls vorenthalten dürfen. Wegen der Lösung der Sinnfrage, Sie wissen schon. Wir sind ganz nahe dran, aber überzeugen Sie sich selbst …

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Chiemgau / Deutschland

Lieber Axel,

die gute alte Sinnfrage … nicht totzukriegen. In letzter Zeit quält sie mich allerdings nicht mehr so intensiv. Vielleicht liegt es daran, dass mein Leben gerade außergewöhnlich ruhig verläuft. In beruflicher Hinsicht sorgt die Kombination aus solipsistisch geistiger Tätigkeit (mein Blog) und menschlich herausfordernder Arbeit (meine Arbeit als Fahrradverkäufer) für einen Ausgleich.

Wie Du vielleicht weißt, habe ich aus selbstsüchtigen Gründen Philosophie studiert. Es war zunächst nicht mein Anliegen, die Welt mit meinen überschaubaren philosophischen Erkenntnissen zu beglücken. Vielmehr erhoffte ich mir Antworten auf die Sinnfrage und ein Instrumentarium, um mit Wechselfällen des Lebens besser umgehen zu können. Kurz gesagt: Die Philosophie hatte eine therapeutische Funktion. Sie sollte mich auf schlechte Zeiten vorbereiten.

Tatsächlich hätte ich ohne die Philosophie nicht zu meiner derzeitigen Seelenruhe gefunden. Ich glaube zudem, dass mir die Philosophie bei der Bewältigung der Verluste in diesem Jahr geholfen hat. Wie auch immer, mein zentrales Lebensproblem (Wozu die ganze Schinderei?) ist verschwunden oder wenigstens vorübergehend untergetaucht.

Das bringt mich zu einem interessanten, weil verwirrenden, Wittgenstein-Zitat:

„Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.

(Ist dies nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)“

Wenn ich meinen damaligen Professor richtig verstanden habe, lösen sich Lebensprobleme nicht allein durch das Philosophieren, sondern durch Veränderungen des Lebens. Das ist die praktische Schraube, an der ich gedreht habe. Früher oft erfolglos oder in die falsche Richtung. Aber nun scheint es geklappt zu haben. Ob es ohne die Philosophie geklappt hätte?

Dass wir uns über unsere Blogs kennengelernt haben, gibt meinem Leben einen zusätzlichen Sinn. Oder, um Wittgensteins Gedanken aufzugreifen, diese Begegnung trägt positiv zur Fülle meines Lebens bei und lässt die Sinnfrage in den Hintergrund treten. Übrigens wird es Zeit, dass wir uns trotz der enormen geografischen Distanz eines Tages in persona treffen.

Tja, die Zeit. Mit zunehmendem Alter rinnt sie wie Sand durch die Finger. Dieses Jahr war ein Hauch… kaum da, schon wieder vorbei. Aber: Während mir inzwischen ein Jahr wie ein Monat vorkommt, fühlen sich Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse wie aus einem anderen Leben an. Wenn ich daran denke, wie ich vor 40 Jahren mit meiner ersten großen Liebe im Golf GTi Richtung Jesolo rauschte, dann hat das kaum noch etwas mit mir zu tun. Mein Leben fühlt sich mal kurz, dann wieder sehr lang an – wie ein Gummiband.

Ich habe gelesen, dass Du im kommenden Jahr Lesereise durch Deutschland planst, um Deinen neuen Roman über das Bewusstsein vorzustellen. Sei nicht überrascht, wenn Du mich bei passender Gelegenheit im Publikum siehst. Ich freue mich jedenfalls schon sehr darauf.

Liebe Grüße

Peter

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Alicante / Spanien

Lieber Peter,

ich hatte dich ja in meinem letzten Brief gefragt, was da auf mich zukäme, beim – erhofften – Einzug der Reife. Befreiendes oder Belastendes? Jetzt nehme ich trotz der Schläge, die Du einstecken musstest, eine positive Grundstimmung in Deinem Brief wahr. Oder ist das vielleicht gar kein „trotz“, sondern ein „gerade deshalb“? Jedenfalls freut mich das sehr für Dich und mich beruhigt es ein wenig.

Aus „selbstsüchtigen Gründen“ Philosophie studieren – das ist eine nette Formulierung, wenn man in die Welt schaut und sieht, wie viele Vergehen aus Selbstsucht begangen werden (in gewissem Sinne vielleicht sogar alle?). Da scheint ein Philosophiestudium eine lässliche und zudem sehr kultivierte Sünde zu sein. Und dennoch verstehe ich, was Du meinst. Ich verstehe es sehr genau. Du hast Zeit für Dich selbst aufgewendet, viel Zeit, so wie ich für meinen Roman. Diese Zeit hätte man für etwas Sinnvolles nutzen können. Zum Beispiel belegte Brote an Obdachlose verteilen, was eine Bekannte von mir macht, wie ich kürzlich erfuhr. Den Hunger des Nächsten stillen – dagegen erscheint alles andere als eitles Unterfangen. Kann es etwas Sinnvolleres geben? Wären wir nicht eigentlich moralisch verpflichtet, einen Großteil unserer Freizeit in solche Tätigkeiten zu stecken, statt Stunde um Stunde vermeintliche Weisheiten zu studieren oder Blätter mit fragwürdigen Geschichten zu füllen? Ginge es dann nicht allen besser?

Ich habe keine abschließende Antwort auf diese Frage. Dass ich meinen Hut vor karitativem Engagement ziehe, versteht sich von selbst. Ich bin nur skeptisch geworden bei diesen einfachen Antworten, die sich so wahnsinnig gut anhören. Geht Dir das auch so? Das Problem dabei scheint mir, dass allzu schlichte Ideen dem Menschen nicht gerecht werden. Es ist ein bisschen wie beim Kommunismus, der sich im ersten Moment ja auch gut anhört. Deswegen würde ich für unsere Tätigkeiten in Anspruch nehmen, dass wir sie tun, weil wir nicht anders können, weil sie zutiefst menschlich sind und wir deshalb auch nicht darauf verzichten sollten. Die empirischen Belege dafür sind erdrückend, meine ich. Von den Homer bis Kant, von Bach bis zu den Beatles. Nicht dass wir uns mit denen messen könnten, aber wir dürfen uns dennoch strebend bemühen, weil das in unserer Natur liegt.

Arbeiten wir uns also am Problem des Lebens ab. Dessen Lösung sei sein Verschwinden, schreibt Wittgenstein also und Dein Professor sagte, man löse es nicht durch Philosophieren, sondern durch Veränderung des Lebens. Man kann die Antwort also nur erleben, aber nicht aussprechen? Leben statt Argumentieren? Ist das der letzte Trumpf gegen den Nihilismus?


Vielleicht nicht. Du weißt, dass „Bewusstsein“ eines meiner Lieblingsthemen ist. Da beschleicht mich in letzter Zeit auch das Gefühl, dass man hier in Bereiche vorstößt, die fraglos existent, aber sprachlich nicht wirklich fassbar sind. Das führt mich zu einem Satz von Pascal Mercier (alias Peter Bieri, Du weißt, er spielt in meinem Roman eine große Rolle), der leider kürzlich verstarb und der mich an Dein Wittgenstein-Zitat erinnerte. In seinem Roman „Das Gewicht der Worte“ erzählt er vom „Mysterium des Schreibens“, der Verwandlung von „Erfahrung in Fiktion“ uns lässt eine seiner Figuren sagen:

„Es geht nicht darum, das Mysterium zu verstehen, es geht nur darum, es zu leben.“

Da haben wir es wieder. Leben ersetzt das Verstehen und das Interessante dabei ist: „Leben“ steht in diesem Kontext ja synonym für „Schreiben“. Schreiben hat also eine besondere Qualität, denn zwar ist es nicht gleichbedeutend mit verstehen, aber es stellt immerhin eine Verbindung zum Mysterium her. In Merciers Roman ist viel von Poesie die Rede. Ich halte es inzwischen für möglich, dass bestimmte Phänomene nur mit einer bildhaften, poetischen Sprache erfasst werden können. Sie ist kein Ersatz für eine wissenschaftliche Beschreibung, aber sie stellt Nähe zu einem unverstandenen Phänomen her, vielleicht so, wie ein Gedicht Nähe zu einer unverstandenen Person herstellen kann. Ist das vielleicht auch der positive Beitrag zur „Fülle meines Lebens“, den Du angesprochen hast? Wittgensteins berühmten Ausspruch, dass man über das, was man nicht klar sagen kann, schweigen solle, würde ich daher relativieren. Für die der Wissenschaft würde ich ihn unterschreiben, aber nicht für den Kosmos unseres Erlebens.

Ein Treffen zwischen uns würde zur Fülle meines Lebens auf jeden Fall beitragen! Lass uns das in Angriff nehmen und lass uns weiter das „Mysterium des Schreibens“ pflegen.

Liebe Grüße

Axel

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Zum Blog des des Schwarze Peters (müller-denkt) geht es hier:

Der Meister der Worte – Ein Nachruf auf Peter Bieri alias Pascal Mercier

„Lieber Herr Stöcker, haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage. Sie können das Buch gerne an mich schicken – ich werde es dann an Peter Bieri weiterleiten.“ Die Mitarbeiterin des Carl Hanser Verlags, bei dem Nachtzug nach Lissabon 2004 erschienen ist, war sehr freundlich. Das war am vierten Mai dieses Jahres. Ich hatte gerade meinen Roman Balduins Welträtsel veröffentlicht, in dem Bieris berühmtes Trilemma eine zentrale Rolle spielt. Nach einer Recherche im Netz war mir klar: Pascal Mercier, so Peter Bieris Pseudonym als Romancier, lebt zurückgezogen und meidet die Öffentlichkeit. Aber vielleicht schnuppert er ja in das Buch hinein, so meine stille Hoffnung, und schreibt mir eine kurze Email und sei es nur aus schweizerischer Höflichkeit. Dann hätte ich versucht, ihn zum Zoomposium einzuladen. Anfang Mai wusste ich noch nicht, dass diese Hoffnung unerfüllbar sein würde, denn Peter Bieri verstarb am 27. Juni 2023 mit 79 Jahren in Berlin.

Wenn man das zentrale Thema von Pascal Merciers Leben auf einen einzigen Begriff bringen wollte, dann wäre das sicherlich der Begriff Sprache. So träumt der Protagonist seines letzten Romans Das Gewicht der Worte (2020) davon, die Sprachen aller an das Mittelmeer angrenzenden Länder zu lernen und liebt es, Antiquariate nach alten Grammatiken zu durchstöbern. Doch die Sprache war nicht nur ein Erkennungszeichen des Schriftstellers Pascal Mercier, sondern auch des Philosophen Peter Bieri. Er wolle kein einziges Wort verwenden, das nicht jedermann versteht, soll er einmal gesagt haben. Das ist ein ehrenwertes, aber in der Philosophie des Geistes, jenem Biotop für Wortungetüme und gestelzte Formulierungen, fast schon wieder verstiegenes Unterfangen, bei dem man sich unweigerlich fragt, ob es überhaupt erfüllbar ist. Über Bieri darf man wohl sagen, dass er diesem Ideal erstaunlich Nahe kam. Sein philosophisches Hauptwerk Das Handwerk der Freiheit von 2001 ist nicht nur eine brillante Einführung in die „Entdeckung des eigenen Willens“ in einer von deterministischen Anschauungen geprägten Zeit, sondern auch ein Lehrbuch darüber, wie man philosophische Gedanken in verständlicher und gleichzeitig schöner Sprache formuliert. Eine Kostprobe:

„Wir empfanden uns als Teil der Natur und gleichzeitig als frei und verantwortlich, und nun stellt sich heraus, daß die beiden Dinge nicht zusammengehen, wobei es unmöglich erscheint, das eine für das andere zu opfern.“

Sprachlich schön und bis heute aktuell ist auch Bieris Aufsatz „Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?“ von 1994, in dem er das berühmte „Qualiaproblem“ erklärt, auch wenn dieser Begriff dort noch gar nicht auftaucht. Wie schon im Bieri-Trilemma (1981, ich habe mich hier schon einmal ausführlich damit beschäftigt)  und im „Handwerk der Freiheit“ geht es auch dabei vor allem um zwei Fragen, die in Bieris philosophischem Werk immer wieder eine Rolle spielen:

  • Warum sind mache physiologischen Prozesse (im Gehirn) von Erleben begleitet und andere nicht?
  • Wie kann Erleben in unserem Verhalten kausal wirksam werden? (Problem der mentalen Verursachung)

Bieri geht alle Erklärungsansätze durch, bis hin zu der Möglichkeit, sich die Frage einfach „abzugewöhnen“.

„Es ist Zeit, sich daran zu erinnern, daß Rätsel nicht auf der Straße liegen, daß sie nicht etwas sind, was es in der Welt einfach so gibt. Ein Phänomen, ein Sachverhalt ist stets nur rätselhaft vor dem Hintergrund bestimmter Erwartun­gen des Erklärens und Verstehens; und die können, wie andere Erwartungen auch, berechtigt sein oder unangebracht. Ist es vielleicht so, daß wir einfach zuviel erwarten, wenn wir unbedingt verstehen wollen, in welcher Weise die materiellen oder die funktionalen Eigen­schaften des Gehirns – oder beide zu­sammen – das Entstehen von Erleben notwendig machen?“

Doch er verneint dies schließlich und endet mit den Worten:

„Ich habe das Rätsel des Bewußtseins nicht gelöst. Natürlich nicht. Aber ich hoffe, Sie sehen jetzt besser, worin es besteht und welche Rolle es spielt in unserem Denken über die Welt und uns selbst. Das wäre nicht wenig. Und mehr hat der Titel ja auch nicht versprochen.“

Im letzten Drittel seines Lebens entfernte sich Peter Bieri zunehmend vom akademischen Betrieb und wandte sich dem Schreiben von Romanen und der Poesie zu. Es ist kein Geheimnis, dass dies nicht völlig reibungslos über die Bühne ging. Er war der Ansicht, die Analytische Philosophie verlöre sich in artifiziellen, zum Selbstzweck gewordenen Begriffswelten und Begründungskonstruktionen und bezahle dies mit einer inhaltlichen Leere hinsichtlich der existenziellen Grundfragen. Man könnte auch sagen: Es würden zu viele eitle Sprechblasen produziert. So ist Bieris erster Roman Perlmanns Schweigen denn auch eine Satire auf den universitären Betrieb. Man ahnt, warum er sich ein Pseudonym zulegte.

Der Philosophie blieb Bieri jedoch treu. Die existenziellen Fragen wie Wer bin ich? sind für ihn letztlich nur in der Fantasie und damit der Poesie zu beantworten. (Denn Poesie in Sprache gegossene Fantasie und für Sprache ist Biere Experte.) Oder, anders ausgedrückt:

„Nichts sagt mehr darüber, wer wir sind, als die Geschichten, die wir erfinden.“

Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte

Wobei „beantworten“ nicht ganz das richtige Wort ist, „ergründen“ wäre vermutlich besser, denn

„Es geht nicht darum das Mysterium zu verstehen, es geht darum, es zu leben.“

ebenda

Solche Sätze hat nun mancher seinerseits als eitle Sprechblase abgetan. Die Kritiker haben vor allem Merciers spätere Romane zum Teil des Kitsches bezichtigt. Das dürfte ihm, spätestens nachdem Nachtzug nach Lissabon in 32 Sprachen übersetzt und verfilmt worden ist, egal gewesen sein.

Ich persönlich denke, dass Peter Bieri seine sprachliche Klarheit und Brillanz in sein belletristisches Werk hinübergerettet hat. Ich finde dort immer wieder Gedanken, die ich auch schon gedacht, aber noch nie so klar formuliert habe. So sollte Literatur sein. Man wird sowohl Peter Bieri als auch Pascal Mercier noch für sehr lange Zeit lesen.

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Weitere Links:

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Foto: YouTube-Screeshot

Nachtzug ins Unerklärliche – Warum das Bewusstsein noch immer ein Rätsel ist

Sehen wir alle dasselbe, wenn wir „rot“ sagen? (Bild: youtube screenshot)

Im Jahre 2004 erschien der Roman Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. Es sollte ein Weltbestseller werden, der in 32 Sprachen übersetzt und 2013 schließlich auch verfilmt wurde.

Über eine seiner Hauptfiguren, Amadeu de Prado, einen charismatischen portugiesischen Arzt zu Zeiten der Salazar-Diktatur, heißt es darin „…er war unersättlich in seinem Bedürfnis nach Erklärungen, und es muß im Hörsaal dramatische Szenen gegeben haben, wenn er mit seinem unerbittlichen kartesischen Scharfsinn darauf hinwies, daß etwas, was als Erklärung ausgegeben wurde, in Wirklichkeit keine war.

Pascal Mercier ist ein Pseudonym, hinter dem sich der Schweizer Philosoph Peter Bieri verbirgt. An welche Pseudoerklärung er beim Schreiben dieser Zeilen dachte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist gut möglich, dass er sich von den heutigen „Erklärungen“ für das Phänomen Bewusstsein inspirieren ließ. Denn auch über das Bewusstsein hat Bieri geschrieben und die fundamentalen Probleme bei der Erklärung desselben in einem prägnanten Trilemma zusammengefasst.

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