Der Tausendsassa – Bernhard Wessling, Autor, Unternehmer und Chemiker

Was haben Kraniche, Fußball und chemische Nicht-Gleichgewichtsprozesse gemein? Nichts, würde man sagen, wenn sie zusammentreffen, kann das eigentlich nur ein Zufall sein. Und genau so ist es! Im neuen Buch von Dr. Bernhard Wessling Was für ein Zufall! – erschienen bei Springer – geht es unter anderem um diese drei Themen. Wessling hat nämlich nicht nur Unternehmen gegründet und chemische Grundlagenforschung betrieben, er hat auch das Verhalten von Kranichen erforscht und hechtet in seiner Freizeit als Torwart nach dem Leder. Und wie das alles mit dem Zufall und dem Wesen der Zeit zusammenhängt, das erklärt er in seinem neuen Buch.
Grund genug für uns, ihm mit unseren „großen Fragen“ auf den Zahn zu fühlen.

Wofür lassen Sie alles stehen und liegen?

Fußball, selbst aktiv ein- bis zweimal in der Woche in einer Altherrenmannschaft spielend (als Torwart und auf dem Feld) oder auch passiv im Fernsehen (ARD Sportschau samstags 18 Uhr); und Kraniche und andere Vogelbeobachtungen.

Welche Themen interessieren Sie am meisten?

Die Entwicklung des Kosmos, des Lebens, die Evolution, das Denken und das Bewußtsein, und bei den letztgenannten Fragen auch, wieviel davon auch bei Tieren zu finden ist (deshalb habe ich jahrzehntelang in meiner Freizeit so intensiv Kraniche erforscht, was zu meinem Buch „Der Ruf der Kraniche“ führte). Hinzu kommt deshalb das Thema „Biodiversität“, wozu ich mit meinem Beitrag zum Artenrettungsprojekt „Schreikranich“ viel beigetragen habe, und durch mein großes Engagement im Kattendorfer Hof (Investor und Geschäftsführer / Biolandwirtschaft) seit langem aktiv beitrage.

Welcher Wissenschaftler fasziniert Sie besonders?

Ilya Prigogine, der die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik begründet hat, mit der ich schließlich unverständliche und unerwartete Beobachtungen in meiner chemischen Forschung erklären konnte; und das drängte mich etliche Jahre später dazu, das neue Buch „Was für ein Zufall!“ zu schreiben.

Und Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie, weil er sie durch Beobachtungen bei Expeditionen gefunden hat, sowie Alexander von Humboldt, der forderte: Um die Welt zu verstehen, müsse ein Wissenschaftler in der Natur sein, sie fühlen und erleben. Sie sind meine Idole, deren Art zu forschen ich sowohl in meiner chemischen Forschung, als auch in meiner ehrenamtlichen Verhaltensforschung an 4 Kranicharten im Freiland und in der Wildnis in Europa, Asien und Nordamerika praktiziert habe: fühlen, riechen, hören, schmecken, sehen und erleben, mit allen Sinnen.

Und welcher Philosoph?

Eher kein spezieller Philosoph, als vielmehr vieles aus der alten chinesischen Philosophie, von der ich ein wenig während meiner 13 Jahre Leben und Arbeiten in China erfahren habe (ein bißchen davon ist in meinem Buch über den Zufall zu erkennen).

Welche drei Bücher würden Sie den Lesern des Blogs der großen Fragen empfehlen?

Sie meinen, abgesehen von meinen eigenen beiden Büchern? 🤣 [Ja! 😉 – A. S.]
Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit
Ilya Prigogine / Isabelle Stengers: Das Paradox der Zeit
Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Welche Musik mögen Sie?

Mit ganz großen Anteilen die Musik der Klassik und der Romantik, darunter v.a. sinfonische Musik, aber auch Piano- (ich spiele selbst, wenn auch schlecht und zur Zeit wenig) und Kammermusik; bevorzugt von Beethoven, Brahms, Tschaikovski, Rachmaninov, Bruckner, Dvorak … und ebenfalls Jazz, höre es aber viel seltener.

Auf welchem Gebiet herrscht heutzutage die größte Unwissenheit?

Meinem Gefühl nach über die Tatsache, daß unsere Welt überhaupt nicht im Gleichgewicht ist: Nichts in unserer Welt ist im Gleichgewicht, alles im Universum existiert nur, weil es selbst und alle seine Teilsysteme und sämtliche Subsysteme der Teilsysteme Nicht-Gleichgewichts-Systeme sind; und über das Phänomen der Emergenz (also der Tatsache, daß auf einer höheren Aggregationsebene der Materie durch Wechselwirkungen neue Eigenschaften und somit neue Gesetze entstehen, das ist aber ein Thema für sich) herrscht weitgehende Unwissenheit.

Was macht eine Frage bedeutend?

Wenn sie (noch) nicht beantwortet ist und ein grundsätzliches Problem des Universums oder des Lebens berührt, aber prinzipiell beantwortbar ist. Deshalb halte ich die Frage nach Multiversen z. B. für irrelevant, weil sie nicht beantwortbar ist

Eine Fee verspricht Ihnen die Antwort auf eine beliebige Frage. Was fragen Sie?

Was ist das Wesen der Zeit? (in anderen Worten: Ist meine neue Hypothese tragfähig?)

Wo sehen Sie Grenzen menschlicher Erkenntnis?

Im Verständnis des Bewußtseins, v.a., weil wir nicht in das Bewußtsein anderer Menschen hineinschauen können, und noch weniger in das Bewußtsein von Tieren. Andere Menschen können wir immerhin befragen und deren Antworten zu interpretieren versuchen, haben also ein paar indirekte Hinweise darauf, was sich in deren Bewußtsein abspielt, aber wir wissen es nicht. Mit Blick auf die Tiere (in meinem Fall Vögel, besonders Kraniche) wissen wir noch viel weniger, weil wir ihre Sprache, ihre Kommunikation nicht verstehen, wir können nur noch viel indirekter zu erahnen versuchen, was sich in deren Köpfen abspielt: Und das ist eine ganze Menge mehr, als die meisten glauben.

Jemand erklärt Ihnen, die Frage nach Gott sei belanglos. Was antworten Sie?

Für mich ist sie belanglos (also ich stimme diesem Jemand zu), für viele andere Menschen nicht, und das respektiere ich. Auch meine atheistische Denkweise ist ein Glaube, so wie ein Glaube an Gott ein Glaube ist: Wir können es nicht wissen, aber für mich wie für diesen Jemand ist die Frage belanglos, d.h., sie berührt mein Leben und mein Denken nicht. Auch deshalb, weil sie prinzipiell nicht beantwortbar ist 

Welche Bedeutung hat der Tod für Sie?

Eine große Bedeutung. Ich wünsche mir, am Ende meines Lebens (das ja unausweichlich ist) bewußt – aber in einem ruhigen, entspannten und schmerzlosen Zustand – zu erleben, daß es nun zuende geht; und dann möchte ich mir sagen können: Ich habe ein bewegtes, spannendes und sinnvolles Leben gelebt. Was soll „bewegt und spannend“ heißen – ich möchte sehr vieles, auch Abenteuerliches, erleben; und „sinnvoll“ – ich möchte wenigstens einen kleinen positiven Beitrag zum Leben (Umwelt, Mitmenschen, also für das Leben anderer inkl der Pflanzen und Tiere, der Ökosysteme) geleistet haben. Daraufhin überprüfe ich so ziemlich alles, was ich unternehme: Mein Leben ist bisher sehr bewegt und spannend, ob insgesamt und im Endergebnis sinnvoll, kann ich erst am Ende sagen.

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Ein interessantes Interview zum Thema Zufall mit Dr. Weßling findet man hier auf dem Blog „Müller denkt“.

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Dr. Bernhard Wessling, Jahrgang 1951, studierte Chemie in Bochum. Er leitete Entwicklungslabors in der chemischen Industrie und gründete mehrere Firmen, zuletzt ein Technologieberatungsunternehmen in ShenZen (China). Daneben erforschte er das Leben von Kranichen. Von ihm erschienen sind:
Der Ruf der Kraniche, Goldmann 2020 und
Was für eine Zufall!, Springer 2022


Was ist Evolution? (7) – Auf der Suche nach den Gesetzen

Ein Gastbeitrag von Helmut Pfeifer

Prinzip der Evolution: Aus einer Variation von Individuen wird durch Umwelteinflüsse (Pfeile) dasjenige ausgewählt, das am besten angepasst ist (Mitte). (Bild: youtube screenshot)

Nachdem Helmut Pfeifer bisher beschrieben hat, wie sich die biologische Evolution abgespielt hat bzw. abgespielt haben könnte, geht es in dieser Folge darum, was Wissenschaftler, wie etwa Paläontologen, Geologen, Zoologen usw. an Wissen zusammengetragen haben und welche evolutionären Gesetzmäßigkeiten sie daraus ableiten.

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Was ist Evolution? (1) – Ein neuer Blick auf die Herkunft des Lebens

Ein Gastbeitrag von Helmut Pfeifer

Gott erschafft Adam; Stammbaum des Homo Sapiens – Der Blick auf den Menschen änderte sich durch die Evolution radikal

Gott hat den Menschen in seiner heutigen Gestalt vor 10 000 Jahren erschaffen! Dieser Meinung sind gut 40 Prozent aller US-Amerikaner. Ein Wert, der sich seit den Achtzigern kaum geändert hat. In muslimischen Ländern ist diese Ansicht noch wesentlich weiter verbreitet. Und sogar im säkulareren Deutschland stimmen einer solchen Aussage immerhin noch 20 Prozent zu (Umfrage von 2009).

So zentral der Gedanke der Evolution für die Wissenschaft ist, so unvollständig ist ganz offenbar der Siegeszug dieser Theorie, der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm. Wenn es um seine eigene Herkunft geht, ist der Mensch eben empfindlich gegenüber Kränkungen. Doch auch von nichtreligiöser Seite gibt kritische Stimmen zu Abstammungslehre.

Grund genug, der Frage, was Evolution eigentlich meint und wie diese Theorie entstanden ist, genauer nachzugehen. Helmut Pfeifer tut dies in seiner mehrteiligen Reihe. Was ist Evolution? (1) – Ein neuer Blick auf die Herkunft des Lebens weiterlesen

Und was sagte Platon dazu? – Daniel Brockmeier, Vlogger

danie brockmeier 1
Vloggt zur Philosophie: Daniel Brockmeier

Die Kategorie Zeitgenossen antworten lief bisher eher bescheiden. Von den fünf befragten Zeitgenossen waren drei Blogger. Zwei davon sind inzwischen nicht mehr aktiv und einer war ich selbst. Nunja. Jugendsünden eines Blogs, der in diesen Tagen drei Jahre alt wird. Nun soll es anders werden.

Die Idee der Kategorie war von Anfang an, immer dieselben Fragen an verschiedene Personen zu stellen. Die Hoffnung dabei: wenigstens unterschiedliche Aspekte dessen auszuleuchten, was ohnehin nicht letztgültig beantwortet werden kann. Die großen Fragen eben, sei es die nach den Grenzen menschlicher Erkenntnis oder auch nur jene nach guter Musik.

Typen statt Theorien – so könnte man das Motto der Kategorie schlagwortartig zusammenfassen. Wobei Philosophen naturgemäß ein größeres Interesse an den großen Fragen mitbringen als andere. So stellt sich auch heute der Vlogger und Philosoph Daniel Brockmeier unseren Fragen.

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Die gescheiterte Kränkung – Warum die Neurowissenschaften unser Menschenbild, allen Unkenrufen zum Trotz, kaum verändert haben

„Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus!“ – „Kränker“ Sigmung Freud
(Bild: pixabay.com)

Angenommen, das Universum wäre eine Party und die Menschheit gehörte zu den geladenen Gästen. Wo hielte sich dieser Gast auf?  Im Mittelpunkt des festlichen Geschehens oder eher zwischen Ausgang und Klotür? Nun, bekanntlich wähnte sich der Homo Sapiens lange Zeit im Zentrum der angesagtesten Tanzfläche wo die Götter die Musik auflegten, er aber selbst weitgehend das Abendprogramm bestimmen konnte. Es schien auch gute Gründe für diese Ansicht zu geben, bis ihm ein paar Spaßbremsen namens Kopernikus, Darwin und Freud die Partylaune gründlich vergällten.

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