Der Nimbus der Weisen und Gelehrten speiste sich früher zum großen Teil aus deren Fähigkeit Antworten zu geben. Im Zeitalter von Google und Co. hat sich das relativiert. Man bekommt heute in Sekundenbruchteilen Antworten auf fast jede Frage, wenn auch nicht immer wirklich zufriedenstellende.
Etwas können Suchmaschinen aber nicht: selbst Fragen stellen. Neugierig sein und fragen – das bleiben menschliche Eigenschaften und sie sind es auch, die die Wissenschaft voranbringen.
Da ist es sicher kein Fehler, wenn ein Buch das Fragen in den Vordergrund rückt, so wie das neuste Werk des Physikers Ilja Bohnet: Die 42 größten Rätsel der Physik. In zwölf Kapiteln geht es um offene Probleme von der klassischen Physik bis zur Kosmologie. Von fachspezifischen Fragen nach der dunklen Materie oder dem Higgs-Feld über Fragen nach der Natur der künstlichen Intelligenz bis hin zu philosophischen Problemen wie „Ist die Natur überhaupt durch Physik beschreibbar?“ ist alles vorhanden. Und: Vieles hängt überraschenderweise miteinander zusammen.
Ilja Bohnet hat dazu 2 mal 42 Gespräche mit insgesamt 69 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt. Ich hatte die Gelegenheit mit ihm über sein Buch zu sprechen.
Blog der großen Fragen: Herr Bohnet, von Max Planck, einem der Begründer der Quantentheorie, wird folgende Anekdote erzählt: Ihm wurde im Alter 16 Jahren von dem Münchner Professor Philipp von Jolly geraten, seine Begabung nicht an ein Physikstudium zu verschwenden, da in dieser Wissenschaft keine wesentlichen Entdeckungen mehr zu erwarten seien. Von Jolly war selbst Physiker. Im Nachhinein muss man sagen: Eine grandiose Fehleinschätzung.
Ilja Bohnet: Eine wunderbare Anekdote, die verdeutlicht, wie vorsichtig man mit Prognosen und Aussagen über die Zukunft sein muss. Dem Physiker Niels Bohr wird folgender Satz zugeschrieben: „Prediction is very difficult, especially if it’s about the future.“ Es ist nicht ganz klar, ob er das wirklich gesagt hat, aber der Satz drückt eine herrlich-selbstironische Vorsicht gegenüber Zukunftsaussagen aus. Der Historiker Joachim Radkau beschäftigt sich in seinem Buch „Geschichte der Zukunft“, wie sich technisch-wissenschaftlich-gesellschaftliche Zukunftsvisionen in den vergangenen hundert immer wieder aufgelöst und verändert haben. Er formuliert drei Prämissen, wie man auf und in die Zukunft schauen sollte: 1. Erwarte das Unerwartete. 2. Prüfe stets die Prämissen von Prognosen aufs Neue, statt Endzeitszenarien oder fantastischen Utopien anzuhängen. 3. Beachte, bei Kurzzeitprognosen das Trägheitsgesetz des Bestehenden nicht außer Acht zu lassen, während bei Langzeitprognosen stets mit überraschenden Wendungen zu rechnen ist.
Das hätte vielleicht auch von Jolly bedenken sollen, als er seine Fehleinschätzung kundtat, dass es im Grunde unmöglich sei, in der Physik Neues zu finden. Als Autor auch von belletristischer Literatur sei mir erlaubt, in diesem Zusammenhang noch einen Altmeister der Science-Fiction zu zitieren, nämlich Arthur C. Clarke, der gesagt hat: „Stellt ein erfahrener distinguierter Wissenschaftler fest, dass etwas möglich ist, dann hat er fast mit Sicherheit recht, behauptet er etwas sei unmöglich, dann hat er sich sehr wahrscheinlich geirrt.“
BdgF: Die Geschichte ist rund 150 Jahre alt. Wie schätzen die heutigen Physiker die Situation ein?
IB: Einerseits ist die Situation eine ganz andere als damals, andererseits gibt es durchaus Parallelen, die einen nachdenklich stimmen.
Zuerst zu den Unterschieden: Der heutige Wissenschaftsbetrieb ist in einer Weise ausdifferenziert, wie das in der Zeit von Philipp von Jolly und Max Planck bestimmt nicht vorstellbar war. Mit der Relativitätstheorie und der Quantenphysik erschließt sich im 20. Jahrhundert erstmals ein umfassendes physikalisches Weltbild, das sich vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos erstreckt – vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Großen. Es lässt sich durchaus beobachten, dass Teildisziplinen stagnieren und andere Bereiche für die Wissenschaftler wie ein Eldorado erscheinen. Ein Beispiel für eine mir sehr lebendig und prosperierend erscheinende Wissenschaftsdisziplin ist die Biophysik und die Physik der Aktiven Materie, worin Strukturen, Funktionsweisen und Dynamiken von Makro- und Biomolekülen untersucht werden. Die Teilchenphysik als Vertreterin der „Big Science“, also der Forschung, die auf großen Teilchenbeschleuniger beruht und nur mit beträchtlichen Aufwand betrieben werden kann, hat zurzeit tatsächlich ein gewisses Problem, weil einfach die instrumentellen Möglichkeiten, neue Entdeckungen zu machen, in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden sind. Möglicherweise reichen die Energien auch zukünftiger Teilchenbeschleuniger nicht aus, um die fundamentalen Fragen jenseits des Standardmodells zu untersuchen. Andererseits kann der Schlüssel zum Öffnen der verborgenen Türen auch in der Steigerung der Präzision bestehen, was schon Hermann von Helmholtz wusste, der als Vollender der klassischen Physik und Begründer des modernen Wissenschaftsbetriebs gilt. In der Wissenschaft werfen Präzisionsmessungen stets neue Fragen auf und liefern auch Antwort darauf. Überdies öffnen sich immer wieder und unerwartet auch ganz neue Fenster: Mit den neuen Gravitationswellendetektoren zum Beispiel ergeben sich für die Astroteilchenphysik völlig neue Möglichkeiten, unser Universum zu untersuchen, und vielleicht erstmals auch die Gravitation wirklich verstehen zu lernen.
Wie auch immer: Ich habe für mich noch keine völlig befriedigende Antwort auf diese wirklich spannende Frage gefunden, und auch in dem Buch „Die 42 größten Rätsel der Physik“ behandle ich sie nur am Rande und indirekt. Ich will mich ihr aber noch einmal dezidiert widmen, wie überhaupt der Frage nach der „Zukunft der Physik“, und zwar zusammen mit meinem Physikerkollegen Thomas Naumann, der bereits bei den „42 Rätseln“ ein sehr wichtiger Gesprächspartner für mich gewesen ist.

BdgF: Kommen wir also zu Ihrem Buch über die 42 größten Rätsel der Physik. Warum ein Buch über Rätsel? Gibt es nicht genug spannende Antworten in der Physik?
IB: Ich finde, Sie geben in Ihrer Einführung zu diesem Gespräch bereits einen ganz wunderbaren Hinweis darauf, dass man sich einem Thema durch das Fragenstellen sehr schön nähern kann – was uns Menschen nämlich möglich ist, im Gegensatz zu technisch zwar ausgefeilten, aber ansonsten stupiden Suchmaschinen (ein tolles Bild, das muss ich mir merken).
Und auch schon Hermann von Helmholtz sagte, dass man die richtigen Fragen stellen muss, um den Dingen wirklich auf den Grund gehen zu können. Tatsächlich aber stammt die Idee zu den „42 größten Rätseln der Physik“ von meinem Verleger Sven Melchert vom Kosmos-Verlag. Mir schwebte zunächst einmal ein Physikbuch vor, dass sich mit interessanten Phänomenen aus unserem Alltag beschäftigt, etwa ein Buch, das nach „99 spannenden Phänomenen in der Küche“ fragt (abseits verrückter Kochrezepte).
Aber ein Buch, das sich mit den fundamentalen Rätseln beschäftigt? Die Idee erschien mir verwegen, fast unlösbar. Wie kann ich denn ein Buch über fundamentale Rätsel schreiben, die ich selber gar nicht begreife? Tatsächlich hat sich aber das Konzept des Buches, das auf Gesprächen mit entsprechenden Fachexperten beruht (Männer wie Frauen) sehr bewährt, finde ich. Die Wissenschaftler haben überhaupt nicht verwundert reagiert auf meine Anfragen. Im Gegenteil, allen war klar, da stellt jemand völlig berechtigte Fragen, Fragen, die an den Rand unseres Wissens führen (auch an den Rand des Wissens der Fachexperten). Bereitwillig haben sie über die Rätsel gesprochen, über das was man weiß, über das, was man nicht weiß, und über das, worüber sich nur spekulieren lässt. Und mir hat es einen Riesenspaß bereitet, diese Fragen zu stellen. Mir selbst war wichtig, den Lesern (Erwachsene, Mädchen und Jungs, jedem, der das Buch in die Hände bekommt) im Rahmen kleiner Einführungen in die jeweiligen Teildisziplinen ein „Geländer“ zu handreichen, an dem sie sicher entlanggeführt werden. Deshalb sind den zwölf kanonischen Teilgebieten der Physik, auf die sich die 42 Rätselragen verteilen, ganz kurze prägnante Einführungen vorangestellt.
BdgF: 42 Rätsel – und das sind nur die „größten“. Eine stattliche Zahl. Wenn man populärwissenschaftliche Bücher liest, könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, es gebe nur noch ein großes Rätsel: Wie schafft man die Vereinigung von Quanten- und Relativitätstheorie? (In Ihrem Buch ist es Frage Nummer 6.) Wenn das gelänge, hätte man die sogenannte „Weltformel“ und könnte alle wichtigen Fragen beantworten. Eine zu grobe Darstellung?
IB: Selbstverständlich sind „die 42 größten Rätsel der Physik“ auch bloß eine Auswahl, wenngleich eine, die auf die „großen“ Fragen in der Physik fokussiert.
Ein Schwerpunkt auf Quantengravitation und Weltformel wäre tatsächlich eine zu grobe Vereinfachung unseres Problems. Aus mehreren Gründen.
Erstens suggeriert eine solche Zusammenfassung, dass alles Rätselhafte, Fundamentale lediglich in teilchenphysikalisch-kosmologischen Zusammenhängen zu suchen ist. Das schließt gewissermaßen andere Bereiche der Physik aus, wie die Festkörperphysik oder die Materialforschung. Sicher, über den Begriff „fundamental“ lässt sich streiten, und ich setze mich damit in meinem Buch, wenn auch nur kurz, auseinander. Aber irgendwie stört mich die Hierarchie, die mit dieser Zusammenfassung und dem Begriff „Weltformel“ verbunden ist. Als seien alle anderen Fragestellungen in anderen Teildisziplinen zweitrangig.
Zudem habe ich auch ein Problem mit dem Begriff „Weltformel“. Jedenfalls glaube ich, dass man mit diesem Begriff vorsichtig umgehen muss. Der Begriff ist sehr populär, richtig, aber was sich tatsächlich dahinter verbergen soll, ist eigentlich nicht klar, geschweige denn, ob sich ein erkenntnistheoretisch erreichbares Ziel damit verbindet. Eine Quantengravitation wäre zweifellos ein unglaublicher Fortschritt im Zusammenhang mit einer Grand Unified Theory (GUT), sozusagen das Zusammenführen aller Kräfte auf eine Ur-Kraft, unvorstellbar! Aber das wäre meines Erachtens noch lange nicht das, was man gemeinhin unter einer Weltformel versteht. Mal abseits der Frage, ob es nicht tatsächlich prinzipielle Gründe gibt, weshalb sich Allgemeine Relativitätstheorie und Quantenphysik nicht vereinigen lassen.
BdgF: Das heißt: Wenn „Weltformel“ bedeuten soll, dass diese Formel die gesamte Welt erklärt und keine Fragen mehr offenlässt, dann wäre die Quantengravitation definitiv keine Weltformel, selbst wenn sie gelänge?
IB: Richtig, mit der Quantengravitation wären wir der Möglichkeit einen sagenhaften Schritt nähergekommen, die vier fundamentalen Wechselwirkungen (elektromagnetische Kraft, schwache Kraft, starke Kraft, Gravitation) zu einer Ur-Kraft zu vereinen. Aber damit hätten wir, soweit ich das überblicken kann, mitnichten eine Weltformel. Viele Fragen wären nach wie vor ungeklärt. Die Materie-Antimaterie-Asymmetrie. Der Ursprung der fundamentalen Naturkonstanten. Die Bedeutung des Higgs-Felds. Oder Erklärungen für Dunkle Materie oder Dunkle Energie. Um nur ein paar prominente Beispiele zu nennen.
BdgF: Gibt es für Sie unter den 42 Rätseln ein Lieblingsrätsel, eines das Sie besonders fasziniert?
IB: Ich weiß nicht, ob ich wirklich die eine Lieblingsfrage habe. Aber doch, es gibt ein paar, die mich ganz besonders faszinieren.
Zum Beispiel die Frage „Was ist Leben“, verbunden mit der Frage „Was ist der Ursprung des Lebens?“ Diese Fragestellung, von Emil Du Bois-Reymond vor mehr als 150 Jahren aufgeworfen, finde ich schon sehr spannend und erstaunlich (auch, weil man sie der Biophysikerin Petra Schwille zufolge im Grunde auch heute noch nicht zufriedenstellend beantworten kann). Offenbar steckt hinter dem Leben ein Selbstorganisationsprinzip, das viel mit der Physik von Turbulenzen zu tun hat, aber das heutige Wissen weist möglicherweise noch nicht ausreichend über die Thermodynamik des 19. Jahrhunderts hinaus, um diese Fragestellung wirklich universell beantworten zu können.
Besonders faszinierend und spannend finde ich tatsächlich auch die Frage, weshalb es noch keine Physik der Quantengravitation gibt, obwohl doch Allgemeine Relativitätstheorie und Quantenphysik für sich genommen so wunderbar funktionieren. Sie ist auch verknüpft mit den Fragen nach Raum und Zeit. Mir erscheint es sehr plausibel, dass Raum, Zeit und Materie aus einer zugrundeliegenden Quantenrealität heraus entstehen.
Ebenso wichtig die Frage nach der Materie-Antimaterie-Asymmetrie (der wir alle unser Leben verdanken). Auch die Frage nach dem Higgs-Feld mag ich besonders gerne, weil dieses skalare (richtungslose) omnipräsente Feld, das merkwürdig an die Quintessenz der alten Griechen und den Äther der Klassischen Physik erinnert, wirklich merkwürdig anmutet. Irgendwie drängt sich einem doch das Gefühl auf, dass da noch etwas fundamental unverstanden ist. Die Frage nach dem Anfang und dem Ende des Universums finde ich ebenfalls sehr gelungen, weil es für mich eine sehr knappe, kondensierte Zusammenfassung der Entwicklung des Universums auf wenigen Seiten darstellt. Nicht zu vergessen die Frage nach…
Nein, ich höre jetzt auf, ertappe ich mich doch dabei, wie ich mir sämtliche Fragen in Erinnerung rufe und mich daran erfreue. Vielleicht nur noch so viel: ich bin mit der Auswahl der Fragen, die ich nach eingehender Auswertung von einschlägiger Literatur zu Beginn des Buchprojekts vorgenommen habe, sehr zufrieden. Zuweilen stoße ich heute auf Artikel, in denen Rätsel und große Fragen der Physik thematisiert werden, und bisher habe ich dabei noch keine Fragestellung angetroffen, die sich nicht in irgendeiner Form in meinem Fragenkatalog wiederfindet – was allerdings auch daran liegt, dass meine Frage teilweise sehr generisch gestellt sind und eine Vielzahl von Teilfragen miteinbeziehen.
BdgF: Eine der Fragen in ihrem Buch lautet: „Wie sieht es hinter dem kosmischen Horizont aus?“ Kurz zusammengefasst lautet die Antwort: Wir können es nicht wissen. Liest man jedoch Hawking und andere, scheint es ausgemachte Sache zu sein, dass dort draußen ein Multiversum existiert. Wer hat nun recht?
IB: Nun, eine salomonische Antwort auf Ihre Frage könnte lauten: Wir können nicht wissen, ob Stephen Hawking recht hat. Da ist tatsächlich was dran. Fragen nach der kosmischen Zensur (rund um Singularitäten in schwarzen Löchern) oder nach dem kosmischen Horizont (Sichtbarkeit des Universums vor dem Hintergrund der limitierten Ausbreitungsgeschwindigkeit von Signalen, nämlich der Lichtgeschwindigkeit) oder nach dem Kopernikanischen Prinzip (hat die Erde eine ausgewählte Position im Universum oder nicht) sind irgendwie auch akademischer Natur. Es sind theoretische Fragen, von denen wir wissen, dass sie sich teilweise einer konkreten Beantwortung auf immer entziehen werden.
Aber ich gebe unumwunden zu, dass ich hier fremdes Terrain betrete. Zudem bin ich mir bewusst, dass letztlich alle Fragen gestellt werden dürfen, und man immer wieder überrascht ist, dass auch abwegig erscheinende zuweilen zu überraschenden Antworten führen. Mein Buch schneidet solche Fragen an, aber sie stellen keinen Schwerpunkt dar, es sind bloß einige der Fragen im Katalog der 42 größten Rätsel entlang der zwölf Teildisziplinen.
BdgF: Sie sagen: „Es sind theoretische Fragen, von denen wir wissen, dass sie sich teilweise einer konkreten Beantwortung auf immer entziehen werden“. Wird damit nicht die Grenze zwischen Physik und Metaphysik überschritten? Oder provokativ gefragt: Wenn man das Wort „theoretisch“ streicht, dann könnte man diese Formulierung doch ebenso auf die Frage nach Gott beziehen?
IB: Das ist eine sehr schwere Frage. Ja, eine grundsätzlich unerklärliche Frage, die physikalisch aus fundamentalen Gründen nicht erklärbar ist, führt notgedrungen in das interessante Spannungsfeld von Wissenschaft und Glaube. Prinzipiell vertrete ich die sogenannte ›Zwei-Reiche-Theorie‹, genau wie mein Gesprächspartner Thomas Nauman, mit dem ich bei der Frage 41 nach Sinn und Zweck der Evolution über diesen Kontext gesprochen habe. Thomas führt Jesus Christus und die Evangelien an: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“. Im Sinne von: „Gebt dem Wissen, was des Wissens ist, und dem Glauben, was des Glaubens ist.“ Nun ist vielleicht ein Streitpunkt, was als grundsätzlich unerklärliche Frage gelten darf. Bestimmt die Frage, was war vor dem Urknall? Bei der Frage nach dem Kosmischen Horizont bin ich mir schon nicht mehr so sicher.
Der Religionswissenschaftler Michael Blume, den ich ebenfalls zu der Frage nach Sinn und Zweck der Evolution befragt habe, gibt noch eine andere interessante Antwort: Er erinnert an den Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt hat. Ein Kirchenmann, der Evolutionsforschung betrieb und bedeutsame Fossilien entdeckte. Laut Blume war für Chardin die Evolution des Lebens ein großer Prozess, der mit Gott begonnen hat und am Ende auch wieder mit Gott enden wird – der große Pilgerweg Gottes, bei dem das Universum von ihm ausgeht und sich am Ende der Zeit wieder in ihm sammelt und zu ihm zurückkehrt. Gott quasi am Anfang und am Ende des Universums. Die Zeit dazwischen lässt sich physikalisch begreifen, aber die Vorstellung des göttlichen Geistes, der Raum und Zeit geschaffen hat, ist physikalisch nicht überprüfbar. Damit ist aber für Blume im Sinne Pierre Teilhard de Chardins ein göttlicher Geist außerhalb von Raum und Zeit durchaus denkbar.
BdgF: Man merkt Ihrem Buch die Liebe zum Detail an, auch bei der Einteilung: 42 Fragen in 12 Kapiteln. Wobei die 42 nicht nur eine Anspielung auf Douglas Adams ist, sondern mit der Summe seiner Primfaktoren 2, 3 und 7 auch die Anzahl der Kapitel in sich trägt. Das klingt ein bisschen nach Numerologie. Außerdem gibt es im Einband einen Ouroboros, eine mythische Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Und dass an der Stelle, wo der Mikrokosmos in den Makrokosmos übergeht. Wie oben, so unten? Steckt in Ihnen auch ein Mystiker?
IB: Tatsächlich hat mir die Zahl 42 und die Primfaktorzerlegung in 2, 3 und 7 bei der Erstellung der Gliederung des Buches extrem geholfen. Mein Anspruch war ja von Beginn an, fundamentale Fragen über sämtliche physikalischen Teilgebiete hinweg zu stellen. Und ich muss zugeben, dass ich auf meine Auflösung des Douglas Adams’schen Rätsels hinsichtlich der Bedeutung der Zahl 42 sehr stolz bin. Aber ich werde, wie so oft, von meinen Fachkollegen eines Besseren belehrt, in diesem Fall von Thomas Lohse, der mir erklärt, dass die Zahl 42 keine besondere natürliche Zahl ist, sondern dass jede natürliche Zahl besonders ist. Er führt einen kleinen mathematischen Beweis durch, den ich jetzt hier nicht wiederholen möchte, mich aber sehr erstaunt und auch Eingang ins Buch gefunden hat (wobei ich nicht sicher bin, ob nicht die von Leonardo Fibonacci im Mittelalter eingeführte Null nicht doch eine ganz besondere Zahl ist, jedoch ist sie formal betrachtet keine natürliche).
Und auch der von Ihnen angesprochene Ouroboros, die mystische Schlange, die sich in den Schwanz beißt und den Kreislauf des Universums symbolisiert, ist ein wunderbares Bild, finde ich. Meines Wissens wurde diese in verschiedenen Mythologien verwendete Schlange in der modernen Kosmologie als erstes von dem britischen Astrophysiker Martin Rees benutzt, um das Zusammenspiel des Allerkleinsten (Mikrokosmos) mit dem Allergrößten (Makrokosmos) zum Ausdruck zu bringen. Aber richtig ist auch, dass man bei dem Spiel mit Mystik aufpassen muss, denn auch Esoteriker greife immer wieder gerne auf Bilder dieser Art zurück, und es gibt zuweilen sogar noch unangenehmere Griffe nach Zahlenmystik und Symbolen, insofern auf dem Teppich bleiben.
Letztlich gefällt mir das ironische Spiel mit solchen Zahlen, dass sich auch bei Douglas Adams findet: die Frage nach „dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ wird mit „42“ beantwortet, eine bessere Antwort gibt es einfach nicht.
BdgF: Ihr Buch bietet einen kompakten Überblick über die aktuelle Physik und ihre Grenzen. Aber Sie haben bereits neue Pläne. Sie wollen an einigen Stellen in die Tiefe gehen.
IB: Richtig, bei meinem aktuellen Buchprojekt, das ich zusammen mit Thomas Naumann verfolge, wollen wir gemeinsam insbesondere die oben angesprochenen kosmologischen Fragestellungen vertieft weiterverfolgen, und auch das Stichwort Multiversum wird darin fallen (mir raucht schon der Kopf). Wir werden aus dem Potpourri der 42 Fragen gewissermaßen die 7 kosmologischen Welträtsel herausdestillieren und vertieft diskutieren. Ich kann und darf noch nicht sehr viel verraten, bloß so viel: Ich wage zu behaupten, dass wir ein paar Thesen formulieren, die sich gemeinhin in populärwissenschaftlicher Literatur über die Kosmologie in der Weise nicht vorfinden. Auch, weil wir uns dabei einer Metaphysik im positiven Sinne stellen wollen. Also kurz und unbescheiden: Es wird ein Knüller!
BdgF: Herr Bohnet, vielen Dank für dieses interessante Gespräch!
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„Die 42 größten Rätsel der Physik“ von Ilja Bohnet, 256 Seiten, KOSMOS-Verlag 2020, 15 Euro, ISBN: 978-3-440-16882-0
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Zum Autor: Ilja Bohnet hat in Physik promoviert und arbeitet als Forschungsbeauftragter bei Deutschlands größter Wissenschaftsorganisation, der Helmholtz-Gemeinschaft. Er schreibt Sachbücher, aber auch Kriminalromane und Kurzgeschichten. Außerdem betreibt er einen persönlichen Blog.
Von all den richtigen Fragen, die gestellt werden sollten, fehlt dabei die Allerwichtigste: „WER oder WAS BIN ICH?“. Alles andere ist immer zweitrangig, denn wenn du dich erkennst, dann weißt du auch, ob etwas übrig bleibt, was und wieviel tatsächlich noch erkannt werden kann.
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Das Ego-Denken liebt Philosophie, die immer gefuttert wird, aber doch nie satt macht. Theorien und Thesen aufzustellen sind die Liebelingsbeschäftigung des Geistes, der aber derart seinen Ursprung verfehlt.
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