Passen Erwin Schrödinger und die Quantentheorie in die Adventszeit? Eigentlich erst einmal nicht. Schrödingers Katze, die bekanntlich mit einer Giftampulle und einer Probe radioaktiven Materials in eine Kiste gesperrt wird, taugt kaum als Weihnachtsmaskottchen.
Schrödinger im Advent – Manfred Rumpl über den weltberühmten Physiker weiterlesenKategorie: Literatur
„Balduins Welträtsel“ – Lesung in Konstanz mit Livestream
Die Entstehung des Bewusstseins ist ein Rätsel, an dem bisher alle gescheitert sind – von den Alten Griechen bis zu den aktuellen Hirnforschern. Axel Stöcker, der zusammen mit Dirk Boucsein dazu schon einige Wissenschaftler und Philosophen auf seinem YouTube-Kanal Zoomposium interviewt hat, führt anhand seines Romans “Balduins Welträtsel” durch dieses faszinierende Thema, das fast so mysteriös ist, wie die Liebe seines Protagonisten zu einer faszinierenden Journalistin.
Die Lesung wird vom Hegau-Bodensee-Seminar durchgeführt und findet am Dienstag, den 8. Oktober um 18.00 Uhr in Konstanz im Alexander-von-Humboldt-Gymnasium statt. Sie wird im Netz gestreamt!
Moderation: Norina Procopan. Vielen Dank an Norina und das HBS für die Organisation 🙏!
Hier geht es zur Seite der Veranstaltung.
Hier geht es direkt zum Livestream (ab 8. Oktober um 18.00 Uhr).
Balduin und Die Großen Fragen gehen auf Tour
Was ich vor einem Jahr für einen Aprilscherz gehalten hätte, ist jetzt Realität. Nein, es geht nicht um irgendwelche politischen Entwicklungen, auch wenn es sich so anhört. Das Thema könnte unpolitischer nicht sein, was vielleicht schon die erste gute Nachricht ist.
Balduin geht auf Tour! Und mit ihm Die Großen Fragen und natürlich auch Zoomposium – aber der Reihe nach.
Die Frage, wie unser Bewusstsein entsteht und ob es uns (und, wenn ja, in welchem Sinne) „frei“ in unseren Entscheidungen macht, beschäftigt mich seit rund zwanzig Jahren. Sie war das Hauptthema des Blogs, sie ist eine zentrale Frage auf dem YouTube-Kanal Zoomposium und sie ist auch eines der beiden Welträtsel von Balduin, dem Protagonisten meines Romans, der im letzten Jahr erschien. Bei allen drei Projekten war die Grundidee, die Frage ganz offen, aber immer ausgehend von empirisch abgesichertem Wissen anzugehen. Es darf meiner Ansicht nach also auch gerne spekuliert werden (wie das bei ungelösten Fragen üblich ist), aber eben erst am „Ende“, also nach der Sichtung all dessen, was die Wissenschaft zu diesem Thema bisher zusammengetragen hat und nur im Einklang mit diesen Erkenntnissen, nicht dagegen. Wie sich in den Interviews auf Zoomposium, die Dirk und ich geführt haben, gezeigt hat, ist die Frage nach dem Bewusstsein nach wie vor stark „empirisch unterbestimmt“ (John-Dylan Haynes), so dass es ohnehin mehr als genug Raum für aufregende Überlegungen gibt. Anders ausgedrückt: Je weniger man über ein Thema weiß, desto mehr denkbare Erklärungen gibt es dafür – und über das Bewusstsein wissen wir immer noch verdammt wenig.
Es gibt eigentlich kein Thema, das uns mehr betrifft als die Entstehung unseres eigenen Bewusstseins. Außer vielleicht die Frage, warum wir lieben. In meinem Roman Balduins Welträtsel geht es um beides und in meinem Vortrag auch. Ich freue mich darauf, durch das Thema zu führen und danach mit Interessierten ins Gespräch zu kommen. Live – nicht bei Facebook oder irgendeinem Forum im Netz. Und hinterher am besten noch auf ein Glas Wein mit Open End. Ich freue mich auf Albstadt, ich freue mich auf Schramberg. Weitere Termine folgen. Wir sehen uns!
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Termine:
13. April, 18.00 Uhr: Albstadt, VHS
14. April, 15.00 Uhr: Schramberg, Podium Kunst e. V.
Presseschau:
Der Meister der Worte – Ein Nachruf auf Peter Bieri alias Pascal Mercier
„Lieber Herr Stöcker, haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage. Sie können das Buch gerne an mich schicken – ich werde es dann an Peter Bieri weiterleiten.“ Die Mitarbeiterin des Carl Hanser Verlags, bei dem Nachtzug nach Lissabon 2004 erschienen ist, war sehr freundlich. Das war am vierten Mai dieses Jahres. Ich hatte gerade meinen Roman Balduins Welträtsel veröffentlicht, in dem Bieris berühmtes Trilemma eine zentrale Rolle spielt. Nach einer Recherche im Netz war mir klar: Pascal Mercier, so Peter Bieris Pseudonym als Romancier, lebt zurückgezogen und meidet die Öffentlichkeit. Aber vielleicht schnuppert er ja in das Buch hinein, so meine stille Hoffnung, und schreibt mir eine kurze Email und sei es nur aus schweizerischer Höflichkeit. Dann hätte ich versucht, ihn zum Zoomposium einzuladen. Anfang Mai wusste ich noch nicht, dass diese Hoffnung unerfüllbar sein würde, denn Peter Bieri verstarb am 27. Juni 2023 mit 79 Jahren in Berlin.
Wenn man das zentrale Thema von Pascal Merciers Leben auf einen einzigen Begriff bringen wollte, dann wäre das sicherlich der Begriff Sprache. So träumt der Protagonist seines letzten Romans Das Gewicht der Worte (2020) davon, die Sprachen aller an das Mittelmeer angrenzenden Länder zu lernen und liebt es, Antiquariate nach alten Grammatiken zu durchstöbern. Doch die Sprache war nicht nur ein Erkennungszeichen des Schriftstellers Pascal Mercier, sondern auch des Philosophen Peter Bieri. Er wolle kein einziges Wort verwenden, das nicht jedermann versteht, soll er einmal gesagt haben. Das ist ein ehrenwertes, aber in der Philosophie des Geistes, jenem Biotop für Wortungetüme und gestelzte Formulierungen, fast schon wieder verstiegenes Unterfangen, bei dem man sich unweigerlich fragt, ob es überhaupt erfüllbar ist. Über Bieri darf man wohl sagen, dass er diesem Ideal erstaunlich Nahe kam. Sein philosophisches Hauptwerk Das Handwerk der Freiheit von 2001 ist nicht nur eine brillante Einführung in die „Entdeckung des eigenen Willens“ in einer von deterministischen Anschauungen geprägten Zeit, sondern auch ein Lehrbuch darüber, wie man philosophische Gedanken in verständlicher und gleichzeitig schöner Sprache formuliert. Eine Kostprobe:
„Wir empfanden uns als Teil der Natur und gleichzeitig als frei und verantwortlich, und nun stellt sich heraus, daß die beiden Dinge nicht zusammengehen, wobei es unmöglich erscheint, das eine für das andere zu opfern.“
Sprachlich schön und bis heute aktuell ist auch Bieris Aufsatz „Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?“ von 1994, in dem er das berühmte „Qualiaproblem“ erklärt, auch wenn dieser Begriff dort noch gar nicht auftaucht. Wie schon im Bieri-Trilemma (1981, ich habe mich hier schon einmal ausführlich damit beschäftigt) und im „Handwerk der Freiheit“ geht es auch dabei vor allem um zwei Fragen, die in Bieris philosophischem Werk immer wieder eine Rolle spielen:
- Warum sind mache physiologischen Prozesse (im Gehirn) von Erleben begleitet und andere nicht?
- Wie kann Erleben in unserem Verhalten kausal wirksam werden? (Problem der mentalen Verursachung)
Bieri geht alle Erklärungsansätze durch, bis hin zu der Möglichkeit, sich die Frage einfach „abzugewöhnen“.
„Es ist Zeit, sich daran zu erinnern, daß Rätsel nicht auf der Straße liegen, daß sie nicht etwas sind, was es in der Welt einfach so gibt. Ein Phänomen, ein Sachverhalt ist stets nur rätselhaft vor dem Hintergrund bestimmter Erwartungen des Erklärens und Verstehens; und die können, wie andere Erwartungen auch, berechtigt sein oder unangebracht. Ist es vielleicht so, daß wir einfach zuviel erwarten, wenn wir unbedingt verstehen wollen, in welcher Weise die materiellen oder die funktionalen Eigenschaften des Gehirns – oder beide zusammen – das Entstehen von Erleben notwendig machen?“
Doch er verneint dies schließlich und endet mit den Worten:
„Ich habe das Rätsel des Bewußtseins nicht gelöst. Natürlich nicht. Aber ich hoffe, Sie sehen jetzt besser, worin es besteht und welche Rolle es spielt in unserem Denken über die Welt und uns selbst. Das wäre nicht wenig. Und mehr hat der Titel ja auch nicht versprochen.“
Im letzten Drittel seines Lebens entfernte sich Peter Bieri zunehmend vom akademischen Betrieb und wandte sich dem Schreiben von Romanen und der Poesie zu. Es ist kein Geheimnis, dass dies nicht völlig reibungslos über die Bühne ging. Er war der Ansicht, die Analytische Philosophie verlöre sich in artifiziellen, zum Selbstzweck gewordenen Begriffswelten und Begründungskonstruktionen und bezahle dies mit einer inhaltlichen Leere hinsichtlich der existenziellen Grundfragen. Man könnte auch sagen: Es würden zu viele eitle Sprechblasen produziert. So ist Bieris erster Roman Perlmanns Schweigen denn auch eine Satire auf den universitären Betrieb. Man ahnt, warum er sich ein Pseudonym zulegte.
Der Philosophie blieb Bieri jedoch treu. Die existenziellen Fragen wie Wer bin ich? sind für ihn letztlich nur in der Fantasie und damit der Poesie zu beantworten. (Denn Poesie in Sprache gegossene Fantasie und für Sprache ist Biere Experte.) Oder, anders ausgedrückt:
„Nichts sagt mehr darüber, wer wir sind, als die Geschichten, die wir erfinden.“
Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte
Wobei „beantworten“ nicht ganz das richtige Wort ist, „ergründen“ wäre vermutlich besser, denn
„Es geht nicht darum das Mysterium zu verstehen, es geht darum, es zu leben.“
ebenda
Solche Sätze hat nun mancher seinerseits als eitle Sprechblase abgetan. Die Kritiker haben vor allem Merciers spätere Romane zum Teil des Kitsches bezichtigt. Das dürfte ihm, spätestens nachdem Nachtzug nach Lissabon in 32 Sprachen übersetzt und verfilmt worden ist, egal gewesen sein.
Ich persönlich denke, dass Peter Bieri seine sprachliche Klarheit und Brillanz in sein belletristisches Werk hinübergerettet hat. Ich finde dort immer wieder Gedanken, die ich auch schon gedacht, aber noch nie so klar formuliert habe. So sollte Literatur sein. Man wird sowohl Peter Bieri als auch Pascal Mercier noch für sehr lange Zeit lesen.
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Weitere Links:
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Foto: YouTube-Screeshot
Ein philosophischer Roman und zwei Klappentexte
Es ist soweit! Der schon mehrfach angekündigte Roman ist raus! In Balduins Welträtsel – Das Körper-Geist-Problem und die Liebe geht es, wie schon der Untertitel sagt, um zwei große – vielleicht die größten – menschlichen Rätsel. Der Klappentext verrät folgendes:
Balduin Schönwald arbeitet als Neurowissenschaftler an einem renommierten Institut und versucht, eines der letzten Welträtsel zu lösen: die Natur des menschlichen Bewusstseins. Bei einem Experiment während einer Gehirnoperation macht sein Team eine spektakuläre Entdeckung. Haben sie die Seele aufgespürt? Balduins Überzeugungen geraten ins Wanken, doch als die Journalistin Sara Almeida am Institut auftaucht und sich für das Experiment interessiert, erkennt er, dass es noch größere Rätsel gibt.
Balduins Welträtsel, Klappentext
Nun ist es kein Geheimnis, dass Klappentexte so etwas wie der kleinste gemeinsam Nenner sind, um möglichst viele Leser anzusprechen. Für die Leser dieses Blogs und alle, die in den Problemkreis Bewusstsein-Qualia-Willensfreiheit schon ein wenig eingedrungen sind, daher hier ein etwas tiefergehender, alternativer Klappentext:
Das Forschungsteam um den verträumten Mathematiker Balduin Schönwald hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Sie wollen die Natur des menschlichen Bewusstseins enträtseln. Das nach dem bekannten Philosophen Peter Bieri benannte Bieri-Trilemma soll gelöst und die Frage, ob der Geist ein Produkt des Körpers ist oder nicht, endlich beantwortet werden. Ein Experiment während einer Gehirnoperation, das der ebenfalls berühmte Neurowissenschaftler Benjamin Libet kurz vor seinem Tod vorgeschlagen hat, soll Klarheit schaffen. Dabei machen sie eine spektakuläre Entdeckung.
Der unerwartete Ausgang des Experiments verwirrt Balduin. Die Beziehung zwischen Geist und Körper scheint ihm mysteriöser denn je. Als dann die Journalistin Sara Almeida am Institut auftaucht und ihn zu dem Experiment befragt, merkt er allerdings, dass es noch größere Rätsel gibt, und dass das Verhältnis zwischen Körper und Geist nicht nur beim Bewusstsein, sondern auch in der Liebe ungeklärt ist.
Balduins Welträtsel war nahe daran, einen Verlag zu finden. Es gab Literaturagenten, die sich die Zeit nahmen, das ganze Manuskript zu lesen. So weit muss man auch erst mal kommen. Am Ende sollte es nicht sein, aber das ist in Ordnung. Die (Post-)Moderne hat auch ihr Gutes und so kann man Balduins Welträtsel hier als E-Book oder gebundenes Buch bestellen und damit auch diesen Blog unterstützen. Aber nun genug der Geschichten über Klappentexte und Literaturagenten. Lesen Sie hier das erste Kapitel und kaufen Sie danach. Tauchen Sie ein in zwei große Mysterien der Menschheit.
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„Gehirn: das Instrument, mit dem unser Geist Musik macht.“ Karl R. Popper
„In den besseren Stunden aber wachen wir soweit auf, dass wir erkennen, dass wir träumen.“ Ludwig Wittgenstein
„Der Geist baut ein Luftschiff. Die Liebe aber macht gen Himmel fahren.“ Christian Morgenstern
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“I am doing science on the mind and the brain …”
Dieser Hirntumor war ein Glücksfall! Balduin blätterte in der Patientenakte. Er tat es nur, um die Zeit zu überbrücken, denn er kannte die Akte praktisch auswendig. Der Tumor hatte das Sehzentrum der Patientin befallen. Das Sehzentrum! Da eine Chemotherapie erfolglos geblieben war, musste es operativ entfernt werden. Das war exakt das, wonach sie gesucht hatten.
Was für die Ärzte ein Misserfolg war, das war für Balduin und sein Team eine Chance, denn er war kein Arzt, er war Hirnforscher im Institut am anderen Ende der Stadt. Genau genommen war Balduin Mathematiker und Philosoph. Vor zwei Jahren war er jedoch zu diesem Projekt gekommen, in dem die Natur des menschlichen Bewusstseins enträtselt werden sollte. Es ging um uralte Fragen: Woher stammt der Geist? War er ein Produkt des Gehirns, wie die meisten Wissenschaftler annahmen, oder doch etwas Eigenständiges? Balduins normaler Arbeitsalltag fand zwischen Hirnscannern, Computern und Büchern statt, doch heute würde es blutiger zugehen, denn sie brauchten ein abgetrenntes Sehzentrum, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Er hob seinen Blick und schaute durch die Glaswand in den Operationssaal. Die Patientin war bereits narkotisiert. Drei Ärzte standen in weißen Kitteln um sie herum und trafen Vorbereitungen.
„Jetzt kommt der unangenehme Teil.“ Eva-Maria, die biologisch-technische Assistentin des Teams, schaute ebenfalls gespannt auf die Szenerie. Balduin sah ihr Nicken im Reflex der Glasscheibe. Er mochte ihre Stupsnase. Wenn das Experiment so ausginge, wie sie erwartete, stünde die Hirnforschung Kopf, so viel war sicher. Eva-Maria war überzeugt, sie standen kurz vor der Entdeckung der Seele. Sie war die Einzige aus der Arbeitsgruppe, die diesen Gedanken auszusprechen wagte, wenn sie in den Pausen im Institutsgarten ihren Kaffee schlürften. Die anderen belächelten sie hinter vorgehaltener Hand dafür, besonders natürlich Waldemar. Sie waren sich einig, dass es bei dem Experiment keine Überraschungen geben konnte – jedenfalls sagten sie das. Alles andere hätte schließlich die gültige Theorie in Frage gestellt, nach der Bewusstsein ein Produkt des Gehirns war.
Der Chirurg begann mit der Trepanation. Kein Anblick für zarte Gemüter. Trepanation kam vom lateinischen Wort trepanum – und das bedeutete Bohrer. Balduin senkte den Blick und sah auf das Foto der Patientin. Ihm ging es um das Experiment und seine Forschung, dennoch ließ ihn ihr Schicksal nicht kalt. Dafür war er bei aller wissenschaftlichen Zielstrebigkeit viel zu zart besaitet. Er hatte im Auftrag des Instituts die Verbindung zu ihr hergestellt. Außenkontakte waren seine Sache. Kohlstätter, sein Chef, meinte, er habe ein Händchen dafür. Das Rätsel des Bewusstseins und das ganze Forschungsprojekt waren ihm angesichts ihrer gesundheitlichen Probleme mit einem Schlag so unbedeutend vorgekommen. Er bewunderte ihre Tapferkeit. Als er ihr alles erklärt und sich schließlich zu der Frage durchgerungen hatte, ob sie für das Experiment zur Verfügung stünde, hatte sie nur geschmunzelt. Das wäre kein Problem, da sie die OP ohnehin über sich ergehen lassen müsste, böte es sich doch an, der Wissenschaft damit einen kleinen Dienst zu erweisen.
Sie hatte es ihm leicht gemacht. Wie schon mit ihrer blonden Kurzhaarfrisur und ihrer unaufgeregten Art hatte sie ihn damit an Angelika, seine Verflossene, erinnert. Balduin hatte sie vor etwa drei Jahren – er war gerade dabei gewesen, seiner Doktorarbeit den letzten Schliff zu verpassen – bei einer Studentenfete auf einem abgelegenen Bauernhof kennengelernt. Trotz mäßiger Musik hatten sie ein paar Mal getanzt. Als er dann zu angeheitert gewesen war, um noch nach Hause zu fahren, hatte sich herausgestellt, dass sie einen großen Schlafsack dabeihatte.
Angelika war pragmatisch und betrachtete die Dinge meist von ihrer funktionalen Seite. Das galt auch für ihr Verhältnis zu Sex. Balduin mochte das, er war schließlich ein Mann. Aber zu behaupten, dass dies der Grund für ihre Beziehung gewesen sei, wäre ungerecht. Er hatte sie aufrichtig gemocht und zuvorkommend behandelt, wie es seine Art war. Ob er sie auch geliebt hatte, war indes eine schwierige Frage für einen Philosophen. Einmal waren sie nach einem Bachkonzert – es war die Ouvertüre in C-Dur – bei einem Glas Wein zusammengesessen. Balduin war noch immer den Tränen nahe gewesen, als sie begonnen hatte, von einem Problem mit ihrer Waschmaschine zu berichten. Da hatte er sich zum ersten Mal einsam in der Zweisamkeit gefühlt. Dennoch hatte es ihn schwer getroffen, als sie ihn zwei Monate später wegen eines Juristen hatte sitzen lassen. Er war auf Arbeitssuche gewesen und hatte die Wahl zwischen einem gut bezahlten Job bei einer Versicherung und dem Bieri-Projekt gehabt, für das er sich schließlich entschied. Niemand hatte das Geist-Gehirn-Problem so prägnant formuliert wie Peter Bieri in seinem Trilemma. Angelika hatte ihm natürlich zu der Stelle bei der Versicherung geraten. Den Geist erforschen, das könne nicht gutgehen, hatte sie zu ihm gesagt. Aber da er ein Träumer sei, werde er ohnehin dieses „komische Projekt“ wählen, da sei sie sicher.
Seine Entscheidung hatte er dann als Single treffen müssen. Bis heute ärgerte ihn die Leichtigkeit, mit der sie seine Wahl damals vorhergesehen hatte. War er so einfach zu durchschauen? Wo war sein freier Wille? Er hatte sich für das Bieri-Projekt entschieden, nicht, weil es „irgendwie dubios“ gewesen wäre, wie Angelika es nannte. Das Gegenteil war der Fall. Es war Forschung an einem der ältesten Rätsel überhaupt, einem Welträtsel sozusagen. Das war keine Träumerei, sondern die Chance bei etwas Großem dabei zu sein. Auch wenn Angelika nichts davon verstand, er würde ihr das Paper unter die Nase halten, sobald sie eine bedeutende Entdeckung gemacht hatten.
Inzwischen war die Trepanation beendet. Der Schädel der Patientin war geöffnet und der Narkosearzt machte sich an einigen Schläuchen zu schaffen. Es würde nicht mehr lange dauern. Eva-Maria schaute Balduin fragend an. Sollten sie jetzt den anderen Bescheid geben? Er nickte ihr zu und sie griff nach ihrem Handy, um eine WhatsApp zu senden.
Eva-Maria hatte mit ihrem andächtigen Blick und ihren langen, glatten Haaren eine Ausstrahlung, die gut zum zweiten Teil ihres Vornamens passte. Sie besaß eindeutig mehr Maria- als Eva-Anteile, wozu ihre Erziehung vermutlich das ihre beigetragen hatte. In einer evangelikalen Gemeinde auf dem Dorf aufgewachsen, war sie Anhängerin der Intelligent-Design-Theorie, nach der die plausibelste Erklärung für die Entstehung des Menschen im Alten Testament, genauer gesagt, im Buch Genesis zu finden war. Fragen nach dem Alter der Erde pflegte sie auszuweichen. Ob das auch ursächlich für ihre gescheiterte Kurzzeitehe gewesen war, war schwer zu sagen. Jedenfalls hatte ihr frisch gebackener Ehemann nicht nur sie, sondern gleich die ganze Gemeinde kurz nach der Vermählung sitzen lassen. Dieser Schicksalsschlag hatte sie aber nicht davon abgehalten, ihre Ausbildung zur biologisch-technischen Assistentin abzuschließen. Viele am Institut konnten nicht nachvollziehen, wie jemand mit solchen Ansichten biologisch-technische Assistentin werden konnte, weshalb Eva-Maria oft im Mittelpunkt der Gespräche stand – jedenfalls dann, wenn sie nicht anwesend war. Wie auch immer, sie gehörte zu Balduins verlässlichsten Arbeitskollegen.
Ein Knacken ließ Balduin aufhorchen. Der riesige Monitor an der Seitenwand des Raumes wurde eingeschaltet. Ab jetzt konnten sie dort jedes Detail der Operation in Ton und Bild verfolgen. Der geöffnete Schädel der Patientin erschien. Balduin hatte freien Blick auf die gewundenen Strukturen des rätselhaftesten Organs des Menschen.
Da ging die Tür auf. Professor Ehrenhardt, der Direktor des Instituts, kam herein, gefolgt von Kohlstätter, dem Projektleiter und Waldemar. Waldemar war Physiker und Informatiker, Balduin hatte ihn im Studium bei einem Seminar über Turing-Maschinen kennengelernt. Als er zum Projekt gekommen war, war Waldemar schon am Institut angestellt gewesen und war eigentlich mit der Programmierung neuronaler Netze beschäftigt. Ehrenhardt wollte ihn jedoch ebenfalls beim Bieri-Projekt haben, so dass Waldemar schließlich wechselte, wenn auch nicht ganz freiwillig. Er fand das Projekt „ein bisschen spiritistisch“, wie er sich in Abwesenheit Ehrenhardts gelegentlich ausdrückte. Jedenfalls waren Balduin und Waldemar sich so wieder begegnet. Inzwischen waren sie Freunde.
Aus dem Lautsprecher tönte die Stimme des Chirurgen: „Wie geht es Ihnen?“ Die Frage war an die Patientin gerichtet.
„Habe mich nie besser gefühlt! Und selbst?“ Balduin zuckte zusammen. Auch wenn er gewusst hatte, dass sie die Patientin wecken würden, kam es ihm jetzt, nachdem er die Trepanation mit eigenen Augen gesehen hatte, unwirklich vor, wie sie putzmunter mit dem Chirurgen scherzte. Es war nicht ungewöhnlich, dass solche Operationen bei vollem Bewusstsein durchgeführt wurden. Das Gehirn erzeugte das Schmerzempfinden für den gesamten Köper – außer für sich selbst. Es war komplett gefühllos. Eine Musikerin hatte einmal bei einer solchen OP gesungen, während ihr ein Hirntumor entfernt wurde. Dadurch konnten sich die Chirurgen sicher sein, dass sie den auditiven Cortex nicht verletzten, der für das musikalische Können der Patientin unerlässlich war.
Heute hätte man die Patientin in der Narkose belassen können, wenn nicht das Experiment gewesen wäre. Das war der kritischste Punkt, den Balduin ihr hatte erklären müssen. Wer möchte schon, dass man ihm bei vollem Bewusstsein am Hirn herumschnippelt? Er hatte ihr das Video gezeigt, auf dem die Musikerin während der Operation „Take me home, country roads“ trällerte. Sie hatte nur genickt. Eine toughe Person!
Auf dem Monitor war nun ihr Gesicht zu sehen. Sie trug eine schwarze Stoffbrille, denn es durfte keinerlei Licht in ihre Augen dringen, das war für das Experiment entscheidend. Danach zeigte der Schirm wieder ihr Gehirn. Balduin spürte, wie die Spannung bei den Anwesenden zunahm. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Der Chirurg hantierte eine Weile mit verschiedenen Geräten herum, dann gab er das verabredete Zeichen. Er hatte den entscheidenden Schnitt gesetzt. Auf dem Bildschirm erkannte man ein Stückchen graue Masse, das nur noch durch einen schmalen Steg mit dem Rest des Gehirns verbunden war. Es war das Sehzentrum. Dieser kleine Hirnlappen war jetzt vom Nervensystem der Patientin getrennt, wurde aber noch durch ihre Blutgefäße versorgt. Ein Stück lebendes Gehirn ohne neuronale Verbindung zu einem Körper!
Der Assistenzarzt hielt zwei haarfeine Elektroden in die Höhe und blickte durch das Glas in ihre Richtung. Kohlstätter nickte ihm zu. Professor Ehrenhardt fixierte das Geschehen im OP wie jemand, der auf keinen Fall eine Sensation verpassen wollte. Kohlstätter gab sich wie immer unbeeindruckt, aber auch bei ihm registrierte Balduin eine ungewöhnliche Anspannung der Gesichtsmuskeln. Eva-Maria hatte glasige Augen und selbst Waldemar schien nervös. Sein überlegenes Lächeln wirkte aufgesetzt. In Balduin herrschte ein Chaos aus sich einander widersprechenden Empfindungen. Ein Gefühl war dabei dominant, doch er war sich nicht sicher, wie er es benennen sollte. War es Hoffnung?
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Balduins Welrätsel – Das Körper-Geist-Problem und die Liebe, ISBN: 9798390510803
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Der Descartes-Gap – Abschied vom Bewusstsein?
„Ein Sachbuch, so anregend, dass man dazu tanzen möchte!“ Das schrieb der Rezensent Denis Scheck über den 2017 erschienenen Bestseller „Homo Deus“ des israelischen Historikers Yuval Noah Harari, in dem dieser „Eine Geschichte von Morgen“ skizziert. Damit hat Schreck gewiss recht, doch vergaß er zu erwähnen, auf welche Musik da getanzt wird. Ist es ein beschwingter Swing in die Zukunft, ein Trauermarsch ins Nichts oder doch eher ein betäubender Drum-and-base-Sound ins Koma?
Nun gilt für Prognosen bekanntlich das Bonmot von Karl Valentin, dass sie schwierig sind, besonders wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Unbestritten dürfte indes sein, dass die technische Revolution an der Schwelle des dritten Jahrtausends gerade erst begonnen hat. Lesen Sie in diesem Beitrag, welches Szenarium Harari für die Zukunft entwickelt, wie sich darin unser Menschenbild verändern könnte und warum das Körper-Geist-Problem dabei eine zentrale Rolle spielt. (Alle Zitate in diesem Text stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus Hararis Buch Homo Deus. Bei längeren Zitaten ist die Seitenzahl angegeben.)
Der wichtigste Begriff der Welt
Habe Sie schonmal darüber nachgedacht, was für ein Algorithmus Sie sind? Wenn nicht, sollten Sie das schleunigst nachholen, denn „‚Algorithmus‘ ist vermutlich der wichtigste Begriff in unserer Welt“ und Sie sind einer – so wie alle anderen Organismen übrigens auch. So fasst Harari sehr prägnant aber durchaus treffend das aktuell gültige Bild zusammen, das die Wissenschaft vom Menschen und „den anderen Tieren“ zeichnet. Was genau meint er damit?
Algorithmen sind zunächst bekannt aus der Informatik, wo sie Rechenoperationen steuern. Allgemeiner betrachtet ist ein Algorithmus aber einfach eine „methodische Abfolge von Schritten, mit deren Hilfe […] Probleme gelöst und Entscheidungen getroffen werden können“. Sie erledigen also genau jene Aufgaben, mit denen Organismen ständig konfrontiert sind. Allerdings gilt das nicht nur für Organismen. Auch Getränkeautomaten funktionieren auf der Basis von Algorithmen, wenn sie uns zum Beispiel eine Tasse Tee zubereiten. Algorithmen steuern also Prozesse über die Subjekte (Teeautomaten, Organismen) mit ihrer Umwelt interagieren. Insofern gilt:
„Menschen sind Algorithmen, die nicht Tee oder Kaffee produzieren, sondern Kopien ihrer selbst (also eine Art Getränkeautomat, der, wenn man die richtigen Tasten drückt, einen weiteren Getränkeautomaten produziert).“ (S. 135)
Daran wird auch klar, dass es Algorithmen sind, die einen Organismus zu einem solchen machen, und nicht etwa die Substanzen, aus denen dieser zusammengesetzt ist. Ein Mensch besteht aus rund 42 kg Sauerstoff, 21 kg Kohlenstoff, 7 kg Wasserstoff, 1,5 kg Stickstoff, 1 kg Calcium und noch ein paar anderen Elementen. Aber wenn wir all diese Stoffe im Labor in einem großen Gefäß vermischen, bekommen wir keinen Menschen. „Menschsein“ steckt in der Struktur, die diese Atome miteinander bilden, in der Art und Weise, wie sie untereinander und mit der Umwelt interagieren und den Prozessen, die dabei ablaufen. All das wird von Algorithmen gesteuert.
Das gilt übrigens auch – Romantiker müssen jetzt tapfer sein – für Gefühle. Sie sind „biochemische Algorithmen“ die sich im Laufe der Evolution entwickelt und optimiert haben und unser Verhalten steuern. Ein Pavian, der eine Banane in der Nähe eines Löwen erspäht, ist zwischen den Gefühlen „Hunger“ und „Angst“ hin- und hergerissen. Ein komplexer Algorithmus führt eine Abwägung zwischen den Gefahren „verhungern“ und „gefressen werden“ durch, wobei er die Umstände der konkreten Situation (Daten!) berücksichtigt, d. h. verarbeitet. Schließlich kommt es zu einer Entscheidung, indem eines der Gefühle die Oberhand behält.
Die Umbrüche des Anthropozän
So weit das Menschenbild der Naturwissenschaft wie Harari es in seinem Buch referiert. Wir kommen später darauf zurück, doch zunächst zu den historischen Entwicklungen, die er nachzeichnet und schließlich extrapoliert.
Harari sieht im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen, das vor rund 70 000 Jahren begann, bisher zwei große Umbrüche. Der erste bestand im Sesshaft werden, im Übergang vom Jäger und Sammler zum Bauer. Damit verließ der Mensch nämlich das „Parlament der Lebewesen“ und stellte sich über seine Mitgeschöpfe, indem er zum Beispiel Tiere domestizierte. Daher ist es kein Zufall, dass zu selben Zeit auch die großen Religionen entstanden. Sie rechtfertigten die Sonderstellung des Menschen, erlaubten ihm die Nutzung (und Ausbeutung) der „anderen Tiere“ und gaben seinem Dasein einen höheren Sinn. Das Universum war nun kein Organismus mehr, sondern eine große Bühne für die beiden Hauptdarsteller: Mensch und Gott. Der Mensch hatte damit seine Mitwelt in gewissem Sinne „zum Schweigen gebracht“ und verhandelte nun nur noch mit den Göttern.
Beim zweiten großen Umbruch – der wissenschaftlichen Revolution – wurde es dann noch einsamer um den Menschen. Mit der Vorstellung, dass das Universum in einem, zwar bestimmten Gesetzen folgenden, aber dennoch sinn- und ziellosen Prozess entstanden ist, entledigte er sich auch der Götter.
„Die Welt war nunmehr eine One-Man-Show. Die Menschheit stand ganz allein auf einer leeren Bühne, sprach mit sich selbst, verhandelte mit niemandem und erwarb enorme Macht ohne irgendwelche Verpflichtungen.“ (S. 155)
Doch das Erlangen von Macht hatte einen Preis: Den Verlust von Sinn. Der Hoffnung auf ein Jenseits und die tröstliche Vorstellung, dass Katastrophen und Schicksalsschläge letztlich einer höheren Einsicht folgen, gingen verloren.
„Die moderne Kultur lehnt diesen Glauben an einen großen kosmischen Plan ab. Wir sind keine Darsteller in irgendeinem Drama, das größer ist als das Leben […] Die moderne Welt glaubt nicht an einen Zweck, sondern nur an eine Ursache.“ (S. 313)
„Der moderne Pakt“ lässt sich daher nach Harari in einem sehr einfachen Satz zusammenfassen:
„Die Menschen stimmen zu, auf Sinn zu verzichten, und erhalten im Gegenzug Macht.“ (S. 311)
Sehnsucht nach Sinn – der Humanismus
Ein verlockendes Angebot, doch der Preis erwies sich als zu hoch. Es mag einzelne Geister geben, die in der Lage sind, Sinnlosigkeit zu ihrer Sache zu machen und im Nihilismus aufzugehen, um schließlich in geistiger Umnachtung zu sterben. Das Gros der Menschen ist mit Sinnlosigkeit schlicht überfordert und Gesellschaften lassen sich damit schon gar nicht organisieren geschweige denn zufriedenstellen. Der Mensch wählte daher den einzig möglichen Ausweg: Wenn dem Universum kein Sinn mehr zu entnehmen war, so musste er aus dem Menschen selbst kommen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass der Mensch die Stellung einnahm, die vorher Gott innehatte, es war die Vergottung des Menschen. Der Humanismus war geboren.
Wie Harari bemerkt, erfährt die Sinngebung damit eine „Rollenverteilung“ (man könnte auch von einer Richtungsumkehr sprechen). Traditionell erzeugte der kosmische Plan im Menschen eine Sinnerfahrung. Nun muss die innere Erfahrung des Menschen dem Kosmos – oder wenigstens der näheren Umgebung – einen Sinn verleihen.
„Das ist das Hauptgebot, das uns der Humanismus mit auf den Weg gegeben hat: Gib einer sinnlosen Welt einen Sinn.“ (S. 345)
Wie aber erzeugt der Mensch Sinn? Die Antwort lautet: Indem er neben der objektiven und der subjektiven Realität „eine dritte Ebene der Wirklichkeit“ kreiert: die intersubjektive. Die objektive Realität umfasst Dinge, die unabhängig von uns existieren (Berge, das Wetter, die Schwerkraft, die DNA), während die subjektive Realität von unserem persönlichen Erleben abhängt (Träume, Schmerz oder – noch typischer – Phantomschmerz). Die meisten Dinge, mit denen wir uns im Alltag beschäftigen, gehören jedoch keiner dieser beiden Kategorien an. Religionen, Währungen, Nationen, Ideologien, Architektur, Musikstile, Kunst, Bräuche, etc. existieren weder unabhängig von uns noch nur in uns. Es sind Fiktionen, intersubjektive Entitäten und sie sind es, die unsere Welt vorantreiben und ihr Sinn verleihen.
Gold, bedrucktes Papier oder die Schallwellen, die eine Gitarre aussendet, existieren objektiv, doch sie sind sinnlos, solange wir uns nicht darauf einigen, dass Gold schön, ein Geldschein wertvoll und Gitarrenklänge Musik sind. Erst durch solche Zuschreibungen erhalten die Dinge eine Bedeutung. Daher sind Schönheit, Wert und Musik intersubjektive Entitäten. Mit solchen Zuschreibungen weben Menschen am „Geflecht des Sinns“ und Geschichte entsteht. Sie können unser Leben stärker beeinflussen als objektive Dinge – ein Krieg kann verheerender sein als eine Naturkatastrophe, ein Musikstück kann uns eine stärkere Gänsehaut verursachen als ein kühler Wind. Harari glaubt, dass die intersubjektive Realität die Objektivität im 21. Jahrhundert vollends verschlingen könnten.
Die Vergottung des Menschen und die Betonung subjektiver Zuschreibungen führt nun dazu, dass im Humanismus „die menschliche Erfahrung die oberste Quelle von Autorität und Sinn ist“. Das wird insbesondere (aber nicht nur) im Liberalismus, einer politischen Spielart des Humanismus deutlich. Die oberste Autorität ist nicht mehr der von Gott eingesetzte König, sondern der Wähler, der aus seiner Erfahrung heraus frei (!) entscheidet, wem er seine Stimme gibt. In ästhetischen Fragen gilt nicht mehr, dass Kunst der Verherrlichung Gottes zu dienen hat, sondern dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Anything goes – solange es sich gut anfühlt, darf alles zu Kunst erklärt werden. In moralischen Angelegenheiten gilt der Maßstab „Wenn es sich gut anfühlt, tu es“ oder – etwas reflektierter – „Tu das, wobei sich möglichst viele gut und möglichst wenige schlecht fühlen“. Das Primat des Fühlens zieht sich durch alle Bereiche, bis hin in die Ökonomie, wo die freie Wahl des Verbrauchers die oberste Autorität ist.
Der Widerspruch
Das führt uns zum zentralen Widerspruch, den Harari in seinem Buch aufdeckt. Die wissenschaftliche Revolution hat einerseits zum Humanismus geführt, in dem das Empfinden und die freie, bewusste Entscheidung des Einzelnen die oberste Autorität darstellt. Andererseits hat ebendiese wissenschaftliche Revolution ein Menschenbild hervorgebracht, das genau diese zentralen menschlichen Eigenschaften nicht erklären kann, ja deren Existenz sogar in Zweifel zieht. Wir erinnern uns: Menschen sind Algorithmen. Die alarmierende Frage, die gestellt werden muss, lautet daher: Was wird aus dem Humanismus, wenn sich diese Zweifel bewahrheiten sollten? Oder, um es mit Hararis Worten zu sagen:
„Was also wird passieren, sobald wir merken, dass Konsument und Wähler niemals freie Entscheidungen treffen, und sobald wir über die Technologie verfügen, um ihre Gefühle zu berechnen, zu beeinflussen oder zu überlisten?“ (S. 427)
Das Körper-Geist-Problem
Ist es Ironie des Schicksals, dass die modernsten Entwicklungen eines der ältesten Probleme aus der Mottenkiste holen? Oder war es vielleicht gar nie in jener Kiste und man hatte es nur verdrängt? Das Körper-Geist-Problem hat verschiedene Namen über die nicht nur auf diesem Blog schon viel geschrieben wurde: Leib-Seele-Problem, Geist-Gehirn-Problem, Qualiaproblem, schwieriges Problem oder Hard Problem of Conciousness. Natürlich widmet ihm auch Harari ein Kapitel. Es geht um die Tatsache, dass einerseits unser Bewusstseinsstrom …
„… die konkrete Wirklichkeit [ist], die wir in jedem Augenblick unmittelbar erleben. Er ist so ziemlich das Sicherste der Welt. Seine Existenz lässt sich schlicht nicht bezweifeln.“ (S. 170)
Andererseits ist es aber so, dass …
„… die Wissenschaft erstaunlich wenig über Geist und Bewusstsein [weiß]. Die gängige Lehrmeinung behauptet gegenwärtig, Bewusstsein entstehe durch elektrochemische Reaktionen im Gehirn […] Niemand weiß jedoch so recht zu sagen, wie eine Ansammlung biochemischer Rektionen und elektrischer Ströme im Gehirn die subjektive Erfahrung von Schmerz, Wut oder Liebe erzeugt.“ (S. 172)
Harari skizziert in seinem Buch als Beispiel die neuronalen Vorgänge, die dazu führen, dass ein Mensch vor einem Löwen flieht und illustriert daran, dass dieser Ansatz, sofern er der Erklärung des Bewusstseins (im Sinne von Qualia) dienen soll, eine geradezu tragikomische Ironie birgt, denn:
„Je genauer wir diesen Prozess nachzeichnen können, desto schwerer wird es, bewusste Gefühle zu erklären. Je besser wir das Gehirn verstehen, desto überflüssiger wirkt der Geist. Wenn das gesamte System mittels elektrischer Impulse funktioniert, die von hier nach dort fließen, warum müssen wir dann auch noch Angst empfinden?“ (S. 177)
Eine Aufklärung des Algorithmus liefert eben keine Erklärung für das Bewusstsein und schon gar nicht des freien Willens. Der naturalistische Erklärungsansatz befindet sich offenbar in einer Sackgasse. Nicht besser sieht es mit – in der Wissenschaft ohnehin verpönten – dualistischen Erklärungsansätzen aus, die das Problem der Interaktion von zwei Entitäten haben (siehe auch Bieri-Trilemma). Und leider vermögen auch die neueren Ansätze der Strukturrealisten, die das Bewusstsein nicht im Gehirn, sondern in den Interaktionsprozessen zwischen Individuum und Umwelt verorten, den gordischen Knoten nicht zu durchtrennen, denn was sind diese Interaktionsprozesse anderes als die erwähnten Algorithmen? Dazu kommt, dass keine der drei angesprochenen Gruppen bisher in der Lage ist, überzeugende empirische Nachweise für den jeweiligen Standpunkt zu erbringen. So haben die Naturalisten das Körper-Geist-Problem ignoriert, die Dualisten haben es mystifiziert und die Strukturrealisten trivialisiert. Doch keiner hat es bisher gelöst.
„Die große Entkopplung“
Wir wissen also nicht, wie Bewusstsein entsteht. Genau genommen wissen wir nicht einmal, was Bewusstsein eigentlich ist. Man könnte dies als abgehobene philosophische Frage abtun, wäre da nicht ein Problem, das sehr real ist, weil wir es inzwischen beobachten können: Intelligenz scheint sich von Bewusstsein (was immer das nun genau sei) abzukoppeln.
Über Jahrtausende schien es eine ausgemachte Sache: Intelligenz ist umso größer, je bewusster ihr Träger ist. Ein Neugeborenes ist zunächst einer Hauskatze intellektuell unterlegen, doch schon nach Monaten überholt es den vierbeinigen Hausgenossen. Spätestens wenn es sich im Spiegel erkennt (Bewusstwerdung) ist es ihm in allen kognitiven Fähigkeiten überlegen. Doch genau dieser Zusammenhang scheint bei künstlicher Intelligenz (KI) nicht mehr zu gelten.
„In den letzten Jahrzehnten gab es in Sachen Computerintelligenz ungeheure Fortschritte, doch was das Bewusstsein von Computern angeht, tat sich im Grunde nichts.“ (S. 476)
Als der IBM-Computer Deep Blue 1997 erstmals einen amtierenden Schachweltmeister, damals Garri Kasparov, schlug, konnte man das noch mit dem Hinweis abtun, dass Schach von seiner Machart her ein ideales Spiel für KI war. Als dann Watson (ebenfalls IBM) 2011 die Quizshow Jeopardy! gewann, war das nicht mehr so einfach, denn für diese Show musste man beispielsweise mit Wortspielen umgehen – eine sehr menschliche Fähigkeit, sollte man meinen. Dennoch glaubt niemand ernsthaft, dass Watson verstanden hat, was er da erzählte, denn er suchte einfach in riesigen Datenbanken nach Texten mit der entsprechenden Formulierung und wählte dann in deren Umfeld die wahrscheinlichste Antwort aus (Stichwort „big data“). Inzwischen hilft Watson mit ähnlichen Methoden bei der Diagnose von Krankheiten und stellt dabei viele seiner menschlichen Kollegen in den Schatten. Ebenfalls 2011 eröffnete in San Francisco übrigens eine Apotheke, die von einem einzigen Roboter betrieben wird.
Das sind nur einige Beispiel, die zeigen, wohin die Reise geht. Angesichts dieser neuen „Formen nicht-bewusster Intelligenz“ scheint die Frage berechtigt, ob zur „Superintelligenz womöglich verschiedene Wege [führen], von denen nur einige durch die Straße des Bewusstseins müssen.“
Das Ende von „Wie war ich?“
Es geht um mehr als verletzten Stolz. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, dass die KI uns in immer mehr Bereichen den Rang abläuft und nutzen die uns daraus erwachsenden Vorteile. Das ist auch in Ordnung. Doch die Frage, die auch Harari am Ende seines Buches als eine der „drei Schlüsselfragen“ seinem Leser mitgibt, bleibt bestehen:
„Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?“ (S. 608)
Oder was, wenn wir durch KI erst zu Algorithmen gemacht werden? Dazu noch ein – vielleicht – kurioses Beispiel aus Hararis Buch. Die Firma Bedpost verkauft
„biometrische Armbänder, die man während des Geschlechtsverkehrs tragen kann. Dieses Armband sammelt Daten wie etwa Puls, Schweißproduktion, Dauer des Geschlechtsverkehrs, Dauer des Orgasmus und Zahl der dabei verbrauchten Kalorien. Diese Daten werden in einen Computer eingespeist, der die Informationen analysiert und Ihre Leistung anhand präziser Zahlen eingestuft.“ (S. 509)
Also nichts mehr von wegen „Wie war es für dich?“ oder „War ich gut?“. Man mag darüber lachen und vielleicht auch dieser speziellen Frage keine Träne nachweinen, doch das Entscheidende ist etwas anderes.
„Menschen, die sich unablässig über solche Apparate vermittelt erleben, betrachten sich vermutlich schon bald selbst als eine Ansammlung biochemischer Systeme und weniger als Individuen […]“ (S. 509)
Könnte das wissenschaftlich-physikalistische Weltbild, das uns erklärt, wir wären nichts anderes als Algorithmen so zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden?
Man spricht manchmal vom Gutenberg-Gap. Damit ist das Zeitalter des Lesens gemeint, die fünfhundert Jahre zwischen den beiden Erfindungen Buchpresse und Smartphone. In dieser Zeit musste man lesen, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Vor der Buchpresse ging das noch nicht, weil es schlicht zu wenig zu lesen gab. Seit dem Smartphone braucht man es nicht mehr, da man sich alle Informationen auch vorlesen lassen oder auf Videos anschauen kann.
Gibt es vielleicht auch ein Descartes-Gap, ein Zeitalter des Bewusstseins? René Descartes hat mit seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich!“ das Bewusstsein quasi zum Macher des menschlichen Individuums befördert, das dann schließlich den Humanismus hervorbrachte. Was aber, wenn wir immer mehr Hirnarbeit der KI überlassen, weil die das besser, schneller oder einfach für uns bequemer erledigt? Heißt es dann „Ich lasse denken, also bin ich nicht mehr?“
Das sollten wir uns überlegen, solange wir es noch können.

