Zwei Boomer philosophieren – Teil2: Ist das Leben der bessere Philosoph?

Im 1. Teil haben der Schwarze Peter vom Blog müller-denkt und ich uns über das Thema Verlust ausgetauscht, was uns dann ziemlich schnell zur Sinnfrage geführt hat. Nein, das Thema ist keineswegs ausgelutscht, sondern aktueller den je, wie eine zweiminütige Recherche auf TikTok eindrücklich vor Augen führt. Ein bisschen haben wir uns gegenseitig hochgeschaukelt, denke ich und als wir das Resultat lasen … was soll ich sagen? Wir waren uns einig, dass wir es unseren Lesern keinesfalls vorenthalten dürfen. Wegen der Lösung der Sinnfrage, Sie wissen schon. Wir sind ganz nahe dran, aber überzeugen Sie sich selbst …

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Chiemgau / Deutschland

Lieber Axel,

die gute alte Sinnfrage … nicht totzukriegen. In letzter Zeit quält sie mich allerdings nicht mehr so intensiv. Vielleicht liegt es daran, dass mein Leben gerade außergewöhnlich ruhig verläuft. In beruflicher Hinsicht sorgt die Kombination aus solipsistisch geistiger Tätigkeit (mein Blog) und menschlich herausfordernder Arbeit (meine Arbeit als Fahrradverkäufer) für einen Ausgleich.

Wie Du vielleicht weißt, habe ich aus selbstsüchtigen Gründen Philosophie studiert. Es war zunächst nicht mein Anliegen, die Welt mit meinen überschaubaren philosophischen Erkenntnissen zu beglücken. Vielmehr erhoffte ich mir Antworten auf die Sinnfrage und ein Instrumentarium, um mit Wechselfällen des Lebens besser umgehen zu können. Kurz gesagt: Die Philosophie hatte eine therapeutische Funktion. Sie sollte mich auf schlechte Zeiten vorbereiten.

Tatsächlich hätte ich ohne die Philosophie nicht zu meiner derzeitigen Seelenruhe gefunden. Ich glaube zudem, dass mir die Philosophie bei der Bewältigung der Verluste in diesem Jahr geholfen hat. Wie auch immer, mein zentrales Lebensproblem (Wozu die ganze Schinderei?) ist verschwunden oder wenigstens vorübergehend untergetaucht.

Das bringt mich zu einem interessanten, weil verwirrenden, Wittgenstein-Zitat:

„Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.

(Ist dies nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)“

Wenn ich meinen damaligen Professor richtig verstanden habe, lösen sich Lebensprobleme nicht allein durch das Philosophieren, sondern durch Veränderungen des Lebens. Das ist die praktische Schraube, an der ich gedreht habe. Früher oft erfolglos oder in die falsche Richtung. Aber nun scheint es geklappt zu haben. Ob es ohne die Philosophie geklappt hätte?

Dass wir uns über unsere Blogs kennengelernt haben, gibt meinem Leben einen zusätzlichen Sinn. Oder, um Wittgensteins Gedanken aufzugreifen, diese Begegnung trägt positiv zur Fülle meines Lebens bei und lässt die Sinnfrage in den Hintergrund treten. Übrigens wird es Zeit, dass wir uns trotz der enormen geografischen Distanz eines Tages in persona treffen.

Tja, die Zeit. Mit zunehmendem Alter rinnt sie wie Sand durch die Finger. Dieses Jahr war ein Hauch… kaum da, schon wieder vorbei. Aber: Während mir inzwischen ein Jahr wie ein Monat vorkommt, fühlen sich Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse wie aus einem anderen Leben an. Wenn ich daran denke, wie ich vor 40 Jahren mit meiner ersten großen Liebe im Golf GTi Richtung Jesolo rauschte, dann hat das kaum noch etwas mit mir zu tun. Mein Leben fühlt sich mal kurz, dann wieder sehr lang an – wie ein Gummiband.

Ich habe gelesen, dass Du im kommenden Jahr Lesereise durch Deutschland planst, um Deinen neuen Roman über das Bewusstsein vorzustellen. Sei nicht überrascht, wenn Du mich bei passender Gelegenheit im Publikum siehst. Ich freue mich jedenfalls schon sehr darauf.

Liebe Grüße

Peter

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Alicante / Spanien

Lieber Peter,

ich hatte dich ja in meinem letzten Brief gefragt, was da auf mich zukäme, beim – erhofften – Einzug der Reife. Befreiendes oder Belastendes? Jetzt nehme ich trotz der Schläge, die Du einstecken musstest, eine positive Grundstimmung in Deinem Brief wahr. Oder ist das vielleicht gar kein „trotz“, sondern ein „gerade deshalb“? Jedenfalls freut mich das sehr für Dich und mich beruhigt es ein wenig.

Aus „selbstsüchtigen Gründen“ Philosophie studieren – das ist eine nette Formulierung, wenn man in die Welt schaut und sieht, wie viele Vergehen aus Selbstsucht begangen werden (in gewissem Sinne vielleicht sogar alle?). Da scheint ein Philosophiestudium eine lässliche und zudem sehr kultivierte Sünde zu sein. Und dennoch verstehe ich, was Du meinst. Ich verstehe es sehr genau. Du hast Zeit für Dich selbst aufgewendet, viel Zeit, so wie ich für meinen Roman. Diese Zeit hätte man für etwas Sinnvolles nutzen können. Zum Beispiel belegte Brote an Obdachlose verteilen, was eine Bekannte von mir macht, wie ich kürzlich erfuhr. Den Hunger des Nächsten stillen – dagegen erscheint alles andere als eitles Unterfangen. Kann es etwas Sinnvolleres geben? Wären wir nicht eigentlich moralisch verpflichtet, einen Großteil unserer Freizeit in solche Tätigkeiten zu stecken, statt Stunde um Stunde vermeintliche Weisheiten zu studieren oder Blätter mit fragwürdigen Geschichten zu füllen? Ginge es dann nicht allen besser?

Ich habe keine abschließende Antwort auf diese Frage. Dass ich meinen Hut vor karitativem Engagement ziehe, versteht sich von selbst. Ich bin nur skeptisch geworden bei diesen einfachen Antworten, die sich so wahnsinnig gut anhören. Geht Dir das auch so? Das Problem dabei scheint mir, dass allzu schlichte Ideen dem Menschen nicht gerecht werden. Es ist ein bisschen wie beim Kommunismus, der sich im ersten Moment ja auch gut anhört. Deswegen würde ich für unsere Tätigkeiten in Anspruch nehmen, dass wir sie tun, weil wir nicht anders können, weil sie zutiefst menschlich sind und wir deshalb auch nicht darauf verzichten sollten. Die empirischen Belege dafür sind erdrückend, meine ich. Von den Homer bis Kant, von Bach bis zu den Beatles. Nicht dass wir uns mit denen messen könnten, aber wir dürfen uns dennoch strebend bemühen, weil das in unserer Natur liegt.

Arbeiten wir uns also am Problem des Lebens ab. Dessen Lösung sei sein Verschwinden, schreibt Wittgenstein also und Dein Professor sagte, man löse es nicht durch Philosophieren, sondern durch Veränderung des Lebens. Man kann die Antwort also nur erleben, aber nicht aussprechen? Leben statt Argumentieren? Ist das der letzte Trumpf gegen den Nihilismus?


Vielleicht nicht. Du weißt, dass „Bewusstsein“ eines meiner Lieblingsthemen ist. Da beschleicht mich in letzter Zeit auch das Gefühl, dass man hier in Bereiche vorstößt, die fraglos existent, aber sprachlich nicht wirklich fassbar sind. Das führt mich zu einem Satz von Pascal Mercier (alias Peter Bieri, Du weißt, er spielt in meinem Roman eine große Rolle), der leider kürzlich verstarb und der mich an Dein Wittgenstein-Zitat erinnerte. In seinem Roman „Das Gewicht der Worte“ erzählt er vom „Mysterium des Schreibens“, der Verwandlung von „Erfahrung in Fiktion“ uns lässt eine seiner Figuren sagen:

„Es geht nicht darum, das Mysterium zu verstehen, es geht nur darum, es zu leben.“

Da haben wir es wieder. Leben ersetzt das Verstehen und das Interessante dabei ist: „Leben“ steht in diesem Kontext ja synonym für „Schreiben“. Schreiben hat also eine besondere Qualität, denn zwar ist es nicht gleichbedeutend mit verstehen, aber es stellt immerhin eine Verbindung zum Mysterium her. In Merciers Roman ist viel von Poesie die Rede. Ich halte es inzwischen für möglich, dass bestimmte Phänomene nur mit einer bildhaften, poetischen Sprache erfasst werden können. Sie ist kein Ersatz für eine wissenschaftliche Beschreibung, aber sie stellt Nähe zu einem unverstandenen Phänomen her, vielleicht so, wie ein Gedicht Nähe zu einer unverstandenen Person herstellen kann. Ist das vielleicht auch der positive Beitrag zur „Fülle meines Lebens“, den Du angesprochen hast? Wittgensteins berühmten Ausspruch, dass man über das, was man nicht klar sagen kann, schweigen solle, würde ich daher relativieren. Für die der Wissenschaft würde ich ihn unterschreiben, aber nicht für den Kosmos unseres Erlebens.

Ein Treffen zwischen uns würde zur Fülle meines Lebens auf jeden Fall beitragen! Lass uns das in Angriff nehmen und lass uns weiter das „Mysterium des Schreibens“ pflegen.

Liebe Grüße

Axel

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Ein philosophischer Roman und zwei Klappentexte

Es ist soweit! Der schon mehrfach angekündigte Roman ist raus! In Balduins Welträtsel – Das Körper-Geist-Problem und die Liebe geht es, wie schon der Untertitel sagt, um zwei große – vielleicht die größten – menschlichen Rätsel. Der Klappentext verrät folgendes:

Balduin Schönwald arbeitet als Neurowissenschaftler an einem renommierten Institut und versucht, eines der letzten Welträtsel zu lösen: die Natur des menschlichen Bewusstseins. Bei einem Experiment während einer Gehirnoperation macht sein Team eine spektakuläre Entdeckung. Haben sie die Seele aufgespürt? Balduins Überzeugungen geraten ins Wanken, doch als die Journalistin Sara Almeida am Institut auftaucht und sich für das Experiment interessiert, erkennt er, dass es noch größere Rätsel gibt.

Balduins Welträtsel, Klappentext

Nun ist es kein Geheimnis, dass Klappentexte so etwas wie der kleinste gemeinsam Nenner sind, um möglichst viele Leser anzusprechen. Für die Leser dieses Blogs und alle, die in den Problemkreis Bewusstsein-Qualia-Willensfreiheit schon ein wenig eingedrungen sind, daher hier ein etwas tiefergehender, alternativer Klappentext:

Das Forschungsteam um den verträumten Mathematiker Balduin Schönwald hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Sie wollen die Natur des menschlichen Bewusstseins enträtseln. Das nach dem bekannten Philosophen Peter Bieri benannte Bieri-Trilemma soll gelöst und die Frage, ob der Geist ein Produkt des Körpers ist oder nicht, endlich beantwortet werden. Ein Experiment während einer Gehirnoperation, das der ebenfalls berühmte Neurowissenschaftler Benjamin Libet kurz vor seinem Tod vorgeschlagen hat, soll Klarheit schaffen. Dabei machen sie eine spektakuläre Entdeckung.
Der unerwartete Ausgang des Experiments verwirrt Balduin. Die Beziehung zwischen Geist und Körper scheint ihm mysteriöser denn je. Als dann die Journalistin Sara Almeida am Institut auftaucht und ihn zu dem Experiment befragt, merkt er allerdings, dass es noch größere Rätsel gibt, und dass das Verhältnis zwischen Körper und Geist nicht nur beim Bewusstsein, sondern auch in der Liebe ungeklärt ist.

Balduins Welträtsel war nahe daran, einen Verlag zu finden. Es gab Literaturagenten, die sich die Zeit nahmen, das ganze Manuskript zu lesen. So weit muss man auch erst mal kommen. Am Ende sollte es nicht sein, aber das ist in Ordnung. Die (Post-)Moderne hat auch ihr Gutes und so kann man Balduins Welträtsel hier als E-Book oder gebundenes Buch bestellen und damit auch diesen Blog unterstützen. Aber nun genug der Geschichten über Klappentexte und Literaturagenten. Lesen Sie hier das erste Kapitel und kaufen Sie danach. Tauchen Sie ein in zwei große Mysterien der Menschheit.

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„Gehirn: das Instrument, mit dem unser Geist Musik macht.“ Karl R. Popper

„In den besseren Stunden aber wachen wir soweit auf, dass wir erkennen, dass wir träumen.“ Ludwig Wittgenstein

„Der Geist baut ein Luftschiff. Die Liebe aber macht gen Himmel fahren.“ Christian Morgenstern


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“I am doing science on the mind and the brain …”

Dieser Hirntumor war ein Glücksfall! Balduin blätterte in der Patientenakte. Er tat es nur, um die Zeit zu überbrücken, denn er kannte die Akte praktisch auswendig. Der Tumor hatte das Sehzentrum der Patientin befallen. Das Sehzentrum! Da eine Chemotherapie erfolglos geblieben war, musste es operativ entfernt werden. Das war exakt das, wonach sie gesucht hatten.

Was für die Ärzte ein Misserfolg war, das war für Balduin und sein Team eine Chance, denn er war kein Arzt, er war Hirnforscher im Institut am anderen Ende der Stadt. Genau genommen war Balduin Mathematiker und Philosoph. Vor zwei Jahren war er jedoch zu diesem Projekt gekommen, in dem die Natur des menschlichen Bewusstseins enträtselt werden sollte. Es ging um uralte Fragen: Woher stammt der Geist? War er ein Produkt des Gehirns, wie die meisten Wissenschaftler annahmen, oder doch etwas Eigenständiges? Balduins normaler Arbeitsalltag fand zwischen Hirnscannern, Computern und Büchern statt, doch heute würde es blutiger zugehen, denn sie brauchten ein abgetrenntes Sehzentrum, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Er hob seinen Blick und schaute durch die Glaswand in den Operationssaal. Die Patientin war bereits narkotisiert. Drei Ärzte standen in weißen Kitteln um sie herum und trafen Vorbereitungen.

„Jetzt kommt der unangenehme Teil.“ Eva-Maria, die biologisch-technische Assistentin des Teams, schaute ebenfalls gespannt auf die Szenerie. Balduin sah ihr Nicken im Reflex der Glasscheibe. Er mochte ihre Stupsnase. Wenn das Experiment so ausginge, wie sie erwartete, stünde die Hirnforschung Kopf, so viel war sicher. Eva-Maria war überzeugt, sie standen kurz vor der Entdeckung der Seele. Sie war die Einzige aus der Arbeitsgruppe, die diesen Gedanken auszusprechen wagte, wenn sie in den Pausen im Institutsgarten ihren Kaffee schlürften. Die anderen belächelten sie hinter vorgehaltener Hand dafür, besonders natürlich Waldemar. Sie waren sich einig, dass es bei dem Experiment keine Überraschungen geben konnte – jedenfalls sagten sie das. Alles andere hätte schließlich die gültige Theorie in Frage gestellt, nach der Bewusstsein ein Produkt des Gehirns war.

Der Chirurg begann mit der Trepanation. Kein Anblick für zarte Gemüter. Trepanation kam vom lateinischen Wort trepanum – und das bedeutete Bohrer. Balduin senkte den Blick und sah auf das Foto der Patientin. Ihm ging es um das Experiment und seine Forschung, dennoch ließ ihn ihr Schicksal nicht kalt. Dafür war er bei aller wissenschaftlichen Zielstrebigkeit viel zu zart besaitet. Er hatte im Auftrag des Instituts die Verbindung zu ihr hergestellt. Außenkontakte waren seine Sache. Kohlstätter, sein Chef, meinte, er habe ein Händchen dafür. Das Rätsel des Bewusstseins und das ganze Forschungsprojekt waren ihm angesichts ihrer gesundheitlichen Probleme mit einem Schlag so unbedeutend vorgekommen. Er bewunderte ihre Tapferkeit. Als er ihr alles erklärt und sich schließlich zu der Frage durchgerungen hatte, ob sie für das Experiment zur Verfügung stünde, hatte sie nur geschmunzelt. Das wäre kein Problem, da sie die OP ohnehin über sich ergehen lassen müsste, böte es sich doch an, der Wissenschaft damit einen kleinen Dienst zu erweisen.

Sie hatte es ihm leicht gemacht. Wie schon mit ihrer blonden Kurzhaarfrisur und ihrer unaufgeregten Art hatte sie ihn damit an Angelika, seine Verflossene, erinnert. Balduin hatte sie vor etwa drei Jahren – er war gerade dabei gewesen, seiner Doktorarbeit den letzten Schliff zu verpassen – bei einer Studentenfete auf einem abgelegenen Bauernhof kennengelernt. Trotz mäßiger Musik hatten sie ein paar Mal getanzt. Als er dann zu angeheitert gewesen war, um noch nach Hause zu fahren, hatte sich herausgestellt, dass sie einen großen Schlafsack dabeihatte.

Angelika war pragmatisch und betrachtete die Dinge meist von ihrer funktionalen Seite. Das galt auch für ihr Verhältnis zu Sex. Balduin mochte das, er war schließlich ein Mann. Aber zu behaupten, dass dies der Grund für ihre Beziehung gewesen sei, wäre ungerecht. Er hatte sie aufrichtig gemocht und zuvorkommend behandelt, wie es seine Art war. Ob er sie auch geliebt hatte, war indes eine schwierige Frage für einen Philosophen. Einmal waren sie nach einem Bachkonzert – es war die Ouvertüre in C-Dur – bei einem Glas Wein zusammengesessen. Balduin war noch immer den Tränen nahe gewesen, als sie begonnen hatte, von einem Problem mit ihrer Waschmaschine zu berichten. Da hatte er sich zum ersten Mal einsam in der Zweisamkeit gefühlt. Dennoch hatte es ihn schwer getroffen, als sie ihn zwei Monate später wegen eines Juristen hatte sitzen lassen. Er war auf Arbeitssuche gewesen und hatte die Wahl zwischen einem gut bezahlten Job bei einer Versicherung und dem Bieri-Projekt gehabt, für das er sich schließlich entschied. Niemand hatte das Geist-Gehirn-Problem so prägnant formuliert wie Peter Bieri in seinem Trilemma. Angelika hatte ihm natürlich zu der Stelle bei der Versicherung geraten. Den Geist erforschen, das könne nicht gutgehen, hatte sie zu ihm gesagt. Aber da er ein Träumer sei, werde er ohnehin dieses „komische Projekt“ wählen, da sei sie sicher.

Seine Entscheidung hatte er dann als Single treffen müssen. Bis heute ärgerte ihn die Leichtigkeit, mit der sie seine Wahl damals vorhergesehen hatte. War er so einfach zu durchschauen? Wo war sein freier Wille? Er hatte sich für das Bieri-Projekt entschieden, nicht, weil es „irgendwie dubios“ gewesen wäre, wie Angelika es nannte. Das Gegenteil war der Fall. Es war Forschung an einem der ältesten Rätsel überhaupt, einem Welträtsel sozusagen. Das war keine Träumerei, sondern die Chance bei etwas Großem dabei zu sein. Auch wenn Angelika nichts davon verstand, er würde ihr das Paper unter die Nase halten, sobald sie eine bedeutende Entdeckung gemacht hatten.

Inzwischen war die Trepanation beendet. Der Schädel der Patientin war geöffnet und der Narkosearzt machte sich an einigen Schläuchen zu schaffen. Es würde nicht mehr lange dauern. Eva-Maria schaute Balduin fragend an. Sollten sie jetzt den anderen Bescheid geben? Er nickte ihr zu und sie griff nach ihrem Handy, um eine WhatsApp zu senden.

Eva-Maria hatte mit ihrem andächtigen Blick und ihren langen, glatten Haaren eine Ausstrahlung, die gut zum zweiten Teil ihres Vornamens passte. Sie besaß eindeutig mehr Maria- als Eva-Anteile, wozu ihre Erziehung vermutlich das ihre beigetragen hatte. In einer evangelikalen Gemeinde auf dem Dorf aufgewachsen, war sie Anhängerin der Intelligent-Design-Theorie, nach der die plausibelste Erklärung für die Entstehung des Menschen im Alten Testament, genauer gesagt, im Buch Genesis zu finden war. Fragen nach dem Alter der Erde pflegte sie auszuweichen. Ob das auch ursächlich für ihre gescheiterte Kurzzeitehe gewesen war, war schwer zu sagen. Jedenfalls hatte ihr frisch gebackener Ehemann nicht nur sie, sondern gleich die ganze Gemeinde kurz nach der Vermählung sitzen lassen. Dieser Schicksalsschlag hatte sie aber nicht davon abgehalten, ihre Ausbildung zur biologisch-technischen Assistentin abzuschließen. Viele am Institut konnten nicht nachvollziehen, wie jemand mit solchen Ansichten biologisch-technische Assistentin werden konnte, weshalb Eva-Maria oft im Mittelpunkt der Gespräche stand – jedenfalls dann, wenn sie nicht anwesend war. Wie auch immer, sie gehörte zu Balduins verlässlichsten Arbeitskollegen.

Ein Knacken ließ Balduin aufhorchen. Der riesige Monitor an der Seitenwand des Raumes wurde eingeschaltet. Ab jetzt konnten sie dort jedes Detail der Operation in Ton und Bild verfolgen. Der geöffnete Schädel der Patientin erschien. Balduin hatte freien Blick auf die gewundenen Strukturen des rätselhaftesten Organs des Menschen.

Da ging die Tür auf. Professor Ehrenhardt, der Direktor des Instituts, kam herein, gefolgt von Kohlstätter, dem Projektleiter und Waldemar. Waldemar war Physiker und Informatiker, Balduin hatte ihn im Studium bei einem Seminar über Turing-Maschinen kennengelernt. Als er zum Projekt gekommen war, war Waldemar schon am Institut angestellt gewesen und war eigentlich mit der Programmierung neuronaler Netze beschäftigt. Ehrenhardt wollte ihn jedoch ebenfalls beim Bieri-Projekt haben, so dass Waldemar schließlich wechselte, wenn auch nicht ganz freiwillig. Er fand das Projekt „ein bisschen spiritistisch“, wie er sich in Abwesenheit Ehrenhardts gelegentlich ausdrückte. Jedenfalls waren Balduin und Waldemar sich so wieder begegnet. Inzwischen waren sie Freunde.

Aus dem Lautsprecher tönte die Stimme des Chirurgen: „Wie geht es Ihnen?“ Die Frage war an die Patientin gerichtet.

„Habe mich nie besser gefühlt! Und selbst?“ Balduin zuckte zusammen. Auch wenn er gewusst hatte, dass sie die Patientin wecken würden, kam es ihm jetzt, nachdem er die Trepanation mit eigenen Augen gesehen hatte, unwirklich vor, wie sie putzmunter mit dem Chirurgen scherzte. Es war nicht ungewöhnlich, dass solche Operationen bei vollem Bewusstsein durchgeführt wurden. Das Gehirn erzeugte das Schmerzempfinden für den gesamten Köper – außer für sich selbst. Es war komplett gefühllos. Eine Musikerin hatte einmal bei einer solchen OP gesungen, während ihr ein Hirntumor entfernt wurde. Dadurch konnten sich die Chirurgen sicher sein, dass sie den auditiven Cortex nicht verletzten, der für das musikalische Können der Patientin unerlässlich war.

Heute hätte man die Patientin in der Narkose belassen können, wenn nicht das Experiment gewesen wäre. Das war der kritischste Punkt, den Balduin ihr hatte erklären müssen. Wer möchte schon, dass man ihm bei vollem Bewusstsein am Hirn herumschnippelt? Er hatte ihr das Video gezeigt, auf dem die Musikerin während der Operation „Take me home, country roads“ trällerte. Sie hatte nur genickt. Eine toughe Person!

Auf dem Monitor war nun ihr Gesicht zu sehen. Sie trug eine schwarze Stoffbrille, denn es durfte keinerlei Licht in ihre Augen dringen, das war für das Experiment entscheidend. Danach zeigte der Schirm wieder ihr Gehirn. Balduin spürte, wie die Spannung bei den Anwesenden zunahm. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Der Chirurg hantierte eine Weile mit verschiedenen Geräten herum, dann gab er das verabredete Zeichen. Er hatte den entscheidenden Schnitt gesetzt. Auf dem Bildschirm erkannte man ein Stückchen graue Masse, das nur noch durch einen schmalen Steg mit dem Rest des Gehirns verbunden war. Es war das Sehzentrum. Dieser kleine Hirnlappen war jetzt vom Nervensystem der Patientin getrennt, wurde aber noch durch ihre Blutgefäße versorgt. Ein Stück lebendes Gehirn ohne neuronale Verbindung zu einem Körper!

Der Assistenzarzt hielt zwei haarfeine Elektroden in die Höhe und blickte durch das Glas in ihre Richtung. Kohlstätter nickte ihm zu. Professor Ehrenhardt fixierte das Geschehen im OP wie jemand, der auf keinen Fall eine Sensation verpassen wollte. Kohlstätter gab sich wie immer unbeeindruckt, aber auch bei ihm registrierte Balduin eine ungewöhnliche Anspannung der Gesichtsmuskeln. Eva-Maria hatte glasige Augen und selbst Waldemar schien nervös. Sein überlegenes Lächeln wirkte aufgesetzt. In Balduin herrschte ein Chaos aus sich einander widersprechenden Empfindungen. Ein Gefühl war dabei dominant, doch er war sich nicht sicher, wie er es benennen sollte. War es Hoffnung?

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Balduins Welrätsel – Das Körper-Geist-Problem und die Liebe, ISBN: 9798390510803
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Der geerdete Philosoph – Peter Müller, Blogger

Denker und Blogger Peter Müller

„Heiterkeit ist der Gegenbegriff zur Schwermut. Sie schließt die Melancholie nicht aus, hält sie aber im Zaum.“

Solche schönen Sätze liest man auf dem Blog von Peter Müller, müller-denkt. So, wie der studierte Philosoph seinen Lebensunterhalt ganz bodenständig in einem Fahrradgeschäft verdient, gestaltet er auch seinen Blog: vergeistigt und geerdet zugleich. In der Philosophie sieht der „Schwarze Peter“ (Müller über Müller) einerseits durchaus die Hypothek einer besonderen Form der „Gedankenschwere“, die „nicht sehr lebenstauglich ist“, aber andererseits eben auch ein „kurzweiliges und bereicherndes Sich-auf-den-Weg-machen“. Die Dinge sind nun mal nicht so eindeutig, wie viele es gerne hätten – nicht in der Philosophie, schon gar nicht im Leben und mitunter nicht einmal in den Naturwissenschaften. Darüber und über viele andere Untiefen der Philosophie und des Daseins überhaupt findet man auf Peter Müllers Blog anregende und unterhaltsam geschriebene Texte. Und natürlich hat er auch zu unseren „großen Fragen“ etwas zu sagen:

Wofür lassen Sie alles stehen und liegen?

Freunde in Not, ein eisgekühltes Mon Cherie, ein alpines Skirennen, die Arte-Sendung „Philosophie“ oder eine Folge der Fernsehserie „Californication“.

Welche Themen interessieren Sie am meisten?

Wenig überraschend: philosophische Themen. Warum? Weil die Philosophie aus der Mitte des Lebens kommt und im Fall der Ethik immer gesellschaftlich rückgebunden werden kann. Darüber hinaus interessiere ich mich für die oft faszinierenden und putzig anmutenden Vorlieben oder Verhaltensweisen mancher Leute. Vor einiger Zeit habe ich zum Beispiel gelesen, dass es Menschen gibt, die einen Luftballonfetisch haben.

Welcher Wissenschaftler fasziniert Sie besonders?

Es fällt mir schwer, eine Person herauszupicken. Grundsätzlich bewundere ich Wissenschaftler, die von ihrem Wirken überzeugt sind, aber nicht in die Falle tappen, ihre Erkenntnisse absolut zu setzen. Gerade in Zeiten von Corona hat der redliche wissenschaftliche Diskurs enorm gelitten. Vermutlich ging es dabei auch um Eitelkeiten und Pfründe.

Und welcher Philosoph?

Ludwig Wittgenstein, weil er uns eine tiefe, vielfältig auslegbare und in zahlreichen Lebenssituationen anwendbare Philosophie hinterlassen hat. Hinzu kommt: Ein riesiges Vermögen zu verschenken schafft auch nicht jeder.

Welche drei Bücher würden Sie den Lesern des Blogs der großen Fragen empfehlen?

1. Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“, weil es eine spannende und philosophisch angehauchte Kriminalgeschichte ist.

2. Oriana Fallacis „Wir, Engel und Bestien“, weil sich die italienische Journalistin auf beeindruckende Weise inmitten des Vietnamkrieges auf die Suche nach dem Wesenskern des Menschen gemacht hat.

3. Platons „Symposion“, weil es den wunderbaren Mythos von den in der Mitte entzweiten Kugelwesen enthält, die seitdem auf der Suche nach der fehlenden Hälfte sind.

Welche Musik mögen Sie?

Indie, Rock, Punk, Heavy Metal und – auch wenn es nicht zu passen scheint – die Bee Gees.

Auf welchem Gebiet herrscht heutzutage die größte Unwissenheit?

Da bin ich ehrlich gesagt überfragt. Aber ich denke, dass die größte Skepsis gegenüber dem Nutzen der Philosophie herrscht. Woran die Philosophie durch eine oft sperrige Sprache selbst schuld ist.

Was macht eine Frage bedeutend?

Eine, die zum Denken und zum Weiterfragen anregt… womit wir bei der Philosophie wären (wenig Antworten, viele FragenJ).

Eine Fee verspricht Ihnen die Antwort auf eine beliebige Frage. Was fragen Sie?

„Was darf ich hoffen?“ (Immanuel Kant). Mit eigenen Worten: Existiert etwas Größeres als das, was wir mit unserem innerweltlichen „Sensorium“ erkennen können? Wird dieses Rätsel nach dem Tod gelöst oder geht einfach nur das Licht aus?

Wo sehen Sie Grenzen menschlicher Erkenntnis?

Fragen, die auf die Transzendenz verweisen, werden wir wahrscheinlich niemals beantworten können.

Jemand erklärt Ihnen, die Frage nach Gott sei belanglos. Was antworten Sie?

Der Umstand, dass die Existenz Gottes nicht beweisbar ist, bedeutet nicht, dass das Fragen überflüssig ist. Selbst wenn alle naturwissenschaftlichen Fragen geklärt werden könnten, bliebe die Frage nach dem Warum. So sagte Werner Heisenberg „Der erste Trunk aus dem Becher der Wissenschaften macht atheistisch; aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott. Etwas praktischer ausgedrückt. Sollte es jemals möglich sein, bis zum Zeitpunkt t0 (Urknall) vorzudringen, stellt sich sofort die Frage „Was war vor dem Urknall?“. Am Ende landet man immer bei der Frage nach einem außerweltlichen Prinzip… egal, ob man es Gott nennt oder nicht.

Welche Bedeutung hat der Tod für Sie?

Ich halte es mit Martin Heidegger. Der war der Ansicht, dass es die Aufgabe des jeweiligen Daseins ist, sein Leben als ein eigentliches am Schopf zu packen. Dieses Sein-zum-Tode gibt im Idealfall die Kraft, der Welt des Man zu entfliehen und das Leben zu gestalten. Der Tod ist somit ein formendes Element des Lebens.

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Zum Blog von Peter Müller geht es hier.

Und was sagte Platon dazu? – Daniel Brockmeier, Vlogger

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Vloggt zur Philosophie: Daniel Brockmeier

Die Kategorie Zeitgenossen antworten lief bisher eher bescheiden. Von den fünf befragten Zeitgenossen waren drei Blogger. Zwei davon sind inzwischen nicht mehr aktiv und einer war ich selbst. Nunja. Jugendsünden eines Blogs, der in diesen Tagen drei Jahre alt wird. Nun soll es anders werden.

Die Idee der Kategorie war von Anfang an, immer dieselben Fragen an verschiedene Personen zu stellen. Die Hoffnung dabei: wenigstens unterschiedliche Aspekte dessen auszuleuchten, was ohnehin nicht letztgültig beantwortet werden kann. Die großen Fragen eben, sei es die nach den Grenzen menschlicher Erkenntnis oder auch nur jene nach guter Musik.

Typen statt Theorien – so könnte man das Motto der Kategorie schlagwortartig zusammenfassen. Wobei Philosophen naturgemäß ein größeres Interesse an den großen Fragen mitbringen als andere. So stellt sich auch heute der Vlogger und Philosoph Daniel Brockmeier unseren Fragen.

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Skeptiker mit Hang zur Romantik

Axel Stöcker, Blogger

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Moped proudly presents RhabarberkuchenAbsurdität meets Reaktion (?), naja, auf jeden Fall gilt es festzuhalten, dass unsere philosophischen Plaudereien, jährlich im Mittsommer, in einem Ilbesheimer Garten unter dem nächtlichen Sternenhimmel, stets zu den Sternstunden eines jeden Jahres zählen.
Weshalb es mir ein Besonderes ist, an dieser Stelle den Macher des Blogs der Großen Fragen, Señor Axel Stöcker und seine Sicht der Dinge zu präsentieren. Pues entonces, empecemos…

Wofür lassen Sie alles stehen und liegen?

Für ein Stück Rhabarberkuchen mit frischer Schlagsahne

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