„Während sich zwischen 2000 und 2012 jeder fünfte Teenager einsam gefühlt habe, habe sich diese Zahl im Zeitraum 2012 bis 2018 verdoppelt. Demnach sind in den USA 40 Prozent der Jugendlichen von Einsamkeit betroffen, in Asien sogar die Hälfte, …“ berichtet die Journalistin Ursula Weidenfeld im Deutschlandfunk. Der Grund? „…, dass man im Grunde keine Alltagsgespräche mehr miteinander führt, dass sich Jugendliche in der Schule oder in der Mensa nicht mehr unterhalten, sondern jeder schaut auf sein Smartphone. Dass man morgens in der Bahn mit niemandem mehr redet.“
Was dieses Problem angeht, da haben der Schwarze Peter und ich die Gnade der frühen Geburt. Einsamkeit kennen wir natürlich auch, aber die hat bei uns andere Gründe. Denn als Boomer vergessen wir manchmal unser Handy zu Hause und verfallen noch nicht einmal in Panik, wenn wir es in der U-Bahn bemerken. So seltsame Leute sind wir.
Die junge Generation mag uns in anderen Dingen voraus sein, aber was das sich Unterhalten, das miteinander Reden angeht, da können wir sicher etwas beitragen. Warum also kein Gespräch in schriftlicher Form zwischen zwei Bloggern? Ein Gespräch über das Leben und die Philosophie, das so dahinmäandert wie auf einer langen Bahnfahrt.
Ich freue mich sehr, dass Peter Müller, bekannt von seinem Blog müller-denkt, und ich uns zu diesem kleinen Experiment zusammengefunden haben. Wir sind im letzten Sommer – jeder auf seine Weise – mit dem Thema Verlust konfrontiert worden. Daraus entspann sich ein Dialog, dessen ersten Teil wir heute veröffentlichen. Peter fängt an.
*
Chiemgau / Deutschland
Lieber Axel,
bei unserem letzten Telefonat haben wir intensiv über das Thema Verlust gesprochen. Wie Du weißt, haben mir die zahlreichen Schicksalsschläge in meinem unmittelbaren Umfeld in den vergangenen Jahren zugesetzt. Zugleich haben sie mich stärker gemacht. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob „stärker“ das richtige Wort ist, meinen derzeitigen Zustand zu beschreiben. Der Verlust geliebter Menschen hat meine Bindungskräfte an das Leben etwas schwächer werden lassen. Andererseits hat sich eine – es mag seltsam klingen – friedvolle Distanziertheit dem Leben gegenüber eingestellt. Vielleicht sollte ich besser von einer mir bislang unbekannten Gelassenheit sprechen.
Ich beschäftige mich zwar noch immer mit der Sinnfrage, allerdings auf eine eher intuitive Weise. Keine Sorge, lieber Axel, ich bin nicht in die Fänge der Esoterik geraten 😀. Aber allein mit Hilfe der akademischen Philosophie kann ich mir meinen derzeitigen Zustand nicht erklären. Ich bin übrigens erstaunt, wie stiefmütterlich sie das Thema Verlust behandelt. Im Philosophischen Wörterbuch, immerhin ein Standart-Nachschlagewerk, kommt der Begriff nicht vor.
Deshalb versuche ich es mit einer weniger „trockenen“ Annäherung an das Thema. Dabei bin ich auf den jung gestorbenen Schriftsteller und geerdeten Philosophen Novalis gestoßen. Sein Postulat von der metaphysischen Obdachlosigkeit des Menschen ist für mich auch im Hinblick auf den Verlust geliebter Menschen bedeutsam. Ich weiß nicht, wie Du es siehst, aber seinen Worten entnehme ich einen Mangel an Trost durch rein innerweltliche Erkenntnisse oder Erklärungsversuche. Vielleicht findet der Mensch letztendlich nur Ruhe durch die Hinwendung zu einem, alle weltlichen Maßstäbe überschreitenden, Prinzip. Nennen wir es Gott oder – neutral formuliert – ein außerweltliches Prinzip.
Aber es muss nicht immer ein Todesfall sein, um Verlusterfahrungen zu machen. In (un)schöner Regelmäßigkeit heißt es Abschied zu nehmen: von liebgewordenen Menschen, Gewohnheiten, Privilegien und vermeintlichen Gewissheiten. Selbst ein Ortswechsel, wie er bei Dir demnächst ansteht, ist mehr als ein neuer Lebensabschnitt. Auch das ist vermutlich ein Verlust.
Ich freue mich darauf, Deine Gedanken zu dem Thema Verlust zu erfahren. Eventuell fällt Dir ja ein philosophischer Aspekt dazu ein.
Liebe Grüße
Peter
*
Alicante / Spanien
Lieber Peter,
was den Verlust geliebter Menschen angeht, hat das Schicksal diesen Sommer bei mir angeklopft, ist dann aber weitergezogen. Nochmal Glück gehabt. Das Thema Verlust beschäftigt mich aber, wie Du schon andeutetest, auf einer anderen Ebene. Im Vergleich mit dem Abschied von einer vertrauten Person, ist es ein laues Lüftchen, was mich da umtreibt, das möchte ich vorwegschicken. Ich vergleiche also strukturell, nicht was die Dimension der Ereignisse betrifft.
Am Ende war es bei mir kein Ortswechsel, sondern ein Verlust des Arbeitsplatzes. Ein kontrollierter, selbst herbeigeführter Verlust, mit der Möglichkeit, die Arbeit in Deutschland wieder aufzunehmen. Verlust in der Luxusvariante mit Auffangnetz. Beamtenprobleme, könnte man sagen. Und dennoch: Eine zehnjährige Episode am Arbeitsplatz ging unschön zu Ende, emotionale Untiefen unterschiedlicher Art griffen aus. Da ist man in der Mitte der sechsten Lebensdekade anders auf sich selbst zurückgeworfen, als man es mit fünfundzwanzig wäre.
In manchen Punkten spüre ich, wie Du, mehr Gelassenheit als früher. Es ist ja nicht der erste unfähige Chef, den man ertragen hat. Stellt sich da ein Hauch von persönlicher Reife bei mir ein? Zeit wär’s ja. Du scheinst mir da voraus zu sein. Und was die Bewertung des neuen Gefühls angeht, höre ich eine gewisse Ambivalenz bei Dir heraus. „Distanziertheit dem Leben gegenüber“ hat ein ganz anderes Timbre wie „Gelassenheit“. Was kommt da auf mich zu Peter? Befreiendes oder Belastendes?
Auf der anderen Seite das: Ich erspüre zum ersten Mal eine Endlichkeit, wenn auch nur beruflich. Zehn Jahre habe ich jetzt noch bis zur Pensionierung – wenn ich bis zum Schluss arbeite. Pensionierung!? Das Wort kam bisher in meinem geistigen Leben überhaupt nicht vor! Zehn Jahre – das war früher mal viel Zeit, inzwischen ist es überschaubar. Man könnte also sagen, ich habe den Verlust eines bestimmten Zeitgefühls erlitten. Bisher war Zeit ein Gut, das im Überfluss vorhanden schien. Jetzt fühlt es sich zwar noch nicht knapp, aber doch irgendwie begrenzt an.
Nun habe ich keine Bange, die Zeit sinnvoll ausfüllen zu können, solange ich mit Dir Dialoge schreiben kann. Aber aus einer Begrenzung folgt die Existenz einer Grenze, einer Grenze der Zeit in diesem Fall. Grenzen werfen die Frage nach dem Dahinter auf. Um das zu erkennen, muss man kein Esoteriker sein, das ergibt sich aus der Semantik des Begriffs. Und damit sind wir Mitten in der von Dir angesprochenen esoterischen … Verzeihung 😉 … metaphysischen Obdachlosigkeit.
Ja, ich denke, die gibt es – sowohl gesellschaftlich als auch individuell. Beides greift natürlich ineinander. Mit Blick auf die Länge meines Textes greife ich im Moment nur den individuellen Aspekt auf. Ich habe, wie Du, meine Zweifel, ob sich die Obdachlosigkeit ohne ein „außerweltliches Prinzip“ auflösen lässt. Aber ich spiele jetzt mal den Advocatus Diaboli und frage Dich:
Peter, wir kennen uns zwar persönlich (noch) nicht näher, aber ich schätze Dich als jemanden ein, der mit seiner empathischen, freundlichen und tiefgründigen Art vielen Leuten eine Hilfe oder sogar Stütze sein kann. Man denke auch an Deinen Blog. Ist nicht allein das mehr als genug, um Deinem Leben einen Sinn zu geben?
Liebe Grüße
Axel
*
Und hier geht es zu Teil 2 – auch zu finden auf müller-denkt.